Montag, 28. Juni 2010

Verachtung

"Ich verachte dich zutiefst!" Diesen Satz hört wohl niemand gern. Schon gar nicht, wenn er von einem Menschen kommt, der vor einem Jahr noch Dinge sagte wie "Ich liebe dich auf immer". Ich habe Anlaß, über das Phänomen der Verachtung nachzudenken, denn mir wurde dieser Satz letzte Woche gesagt. Von einem Menschen, der vor einem Jahr noch ganz anders sprach.

Die Umstände des Einzelfalls tun nichts zur Sache. Ja, ich habe ihr unrecht getan - ein schwerer Fehler, der (wie ich hoffe und glaube) mehr einer tiefgreifenden Verwirrung meiner Seele als einem per se verderbten Charakter geschuldet war, und den ich hernach mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln wiedergutzumachen versucht habe. Aber es hat nicht gereicht; ich war in dieser Lebensphase wohl zu schwach. Nun verachtet mich dieser Mensch also, den ich nach wie vor als eine der wundervollsten, bereicherndsten und außergewöhnlichsten Begegnungen meines Lebens betrachte.

Ob ich ihre Verachtung unterm Strich verdient habe oder nicht, mag dahinstehen. Ich verstehe sie immerhin. Mich interessiert die Frage, wie Verachtung überhaupt entsteht, was sie bedeutet, und ob irgendein Mensch auf der Welt es verdient hat, verachtet zu werden.

Denn Verachtung bezeichnet ja nicht die Mißbilligung einzelner Eigenschaften, persönlicher Fehler oder charakterlicher Schwächen eines Menschen. Jemanden zu verachten bedeutet vielmehr, ihn als Ganzes abzulehnen und seiner Existenz jeden Wert abzusprechen. Und ich bin nicht sicher, ob man dergleichen tun sollte.

Egal, wie verachtenswert jemand handelt - er ist immer durch irgendwelche persönlichen Gründe dahin geraten, so zu sein, wie er eben ist, und niemand von uns weiß, wie er selbst sich unter vergleichbaren Umständen entwickelt hätte. Natürlich entschuldigt das nicht alles! Es gibt ohne jeden Zweifel zutiefst verachtenswerte Einstellungen, Handlungsweisen und Charaktereigenschaften! Aber Verachtung ist ein so endgültiges, so vernichtendes Gefühl, daß sie doch immer nur diesen speziellen Merkmalen gelten und niemals den Menschen als Ganzes betreffen sollte. Unser Mitleid sollte unerschöpflich sein, bevor wir uns in die Verachtung verirren. Wer einen Menschen als Ganzes zu verachten imstande ist, hat seine Menschlichkeit verloren.

Es tut weh, von jemandem verachtet zu werden, den man immer noch freundschaftlich liebend im Herzen trägt, und mit dem man viele, viele unsagbar gute Stunden verbracht hat. Ich kriege es einfach nicht hin, Menschen vollumfänglich zu verachten, denen ich mal so nah war. Und sie auch nicht wirklich, glaube ich. Zu einem Teil bin ich für sie wohl auch Projektionsfläche für vieles andere, was schief gelaufen ist; so viel habe ich begriffen. Aber das ist in Ordnung.