Freitag, 3. Januar 2014

Der Unfall

"Die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug." 
 (Richard Wagner, 'Parsifal')

Ich hatte diesen Unfall. Damals, vor sechseinhalb Jahren. Seltsam, wie es dazu kam.

In jener Zeit besaß ich eine S-Klasse, anthrazitgrau, ausgestattet mit allem, was man sich an Komfort und Sicherheit nur wünschen kann. Kraft und Luxus, ein durch und durch zuverlässiges Auto von höchster Qualität, mit dem man sich sehen lassen konnte und auch bei schlechtem Wetter stets sicher unterwegs war. Ich fuhr den Wagen schon ein paar Jahre. Immer den gleichen Weg, immer dasselbe Tempo. Den Unfall hatte ich dann jedoch mit einem anderen Gefährt. Auf einem anderen Weg.

Zunächst war alles wie immer. Nach ein paar regnerischen Tagen war es endlich wieder sonnig, und meine Fahrt verlief ruhig und gemütlich. Bis ich in einer Abzweigung unter einer alten Weide mit zwei sich V-förmig spreizenden Stämmen dieses schwarze Sportcoupé stehen sah, schnittig, tief glänzend, ein ausländisches Modell einer mir unbekannten Marke. Es erregte mich auf den ersten Blick. Ich hielt an, stieg aus, ließ meine S-Klasse am Wegesrand stehen und ging um das Coupé herum. Die Fahrertüre war offen, und im Zündschloß steckte der Schlüssel. Ich wußte sofort, daß ich diesen Wagen fahren wollte. Auf dem Weg, der von meiner üblichen Strecke abzweigte. Und niemals mehr würde ich umkehren wollen.

Also stieg ich ein. Der Sitz schien wie für mich gemacht, weich, gleichwohl mit ausreichend Halt und meiner Körperform vollkommen angepaßt. Als ich den Zündschlüssel drehte, erklang ein Motorgeräusch, wie ich es noch niemals vernommen hatte. Leise flüsternd nur, und doch tief und kraftvoll, eine Verheißung höchster Lust, ein Ahnen der letztgültigen Erfüllung, aber zurückhaltend und unverbindlich. Ich legte den Gang ein und gab etwas Gas. Und im Nu war ich auf dem Weg, dem neuen, unbekannten. Eine wunderschöne Strecke, perfekt geradezu. Und ich wurde schneller, gab mich dem Rausch hin und verlangte dem Wagen immer mehr ab. Rasant nahm ich die Kurven, und auf den geraden Strecken beschleunigte ich gierig. Es war großartig. Ich wurde eins mit dem Wagen, der mehr auf meine Gedanken als auf mein eigentliches Steuern zu reagieren schien.

Und dann kam die Kurve. Ich war schnell, hatte richtig Gas gegeben, denn ich war vollkommen überzeugt davon, daß Wagen, Weg und ich bedingungslos zusammengehören. Doch auf einmal wirkten meine Lenkbewegungen nicht mehr. Es war, als habe der Wagen beschlossen, meiner Richtung nicht mehr zu entsprechen, ja als habe jemand die Elektronik manipuliert, um mir die Fahrt zu verderben. Ich sah gerade noch den Baum auf mich zu rasen. Eine alte Weide mit zwei sich V-förmig spreizenden Stämmen. 'Ist das nicht derselbe Baum...?' dachte ich noch, und dann krachte es. Ich spürte, wie sich ein Holzpflock von dem Baum in mein Herz bohrte. Seither zuckte es nur noch anstatt zu schlagen. Meine Rippen splitterten und zerfetzten meine Lungen, Blut aus einer gerissenen Schlagader sprudelte in meine Bauchhöhle und quoll mir aus dem Mund. Mein Schädel schlug so hart auf, daß er aufknackte wie eine Kokosnuß, und meine Arme und Beine brachen so oft, daß sie wie Gummischläuche an mir herabbaumelten. Und etwas in mir starb.

Ich kroch weg von dem Baum, weg von dem Wagen, meinen Verletzungen zum Trotze. Und obwohl ich kaum mehr bei Sinnen war, erkannte ich, daß das Fahrzeug vollkommen unbeschädigt war. Tief schwarz glänzend, ohne einen Kratzer stand es da. Die intakten Warnblinker schienen meinen verlorenen Herzschlag zu verhöhnen, und eine verschwommene Gestalt fummelte an der Elektronik herum, stieg ein und fuhr mit einem triumphierenden Lachen davon. Ein unsagbares Grauen ergriff mich, und mit letzter Kraft floh ich in den Wald. Viel später erst erfuhr ich, daß im Moment des Aufpralls meine weit entfernt am Wegesrand abgestellte S-Klasse vollkommen zerstört worden war, zerschmettert wie vom gewaltigen Schlag einer unsichtbaren Faust.

Seitdem wandelte ich halbtot umher. Kannte keinen Weg mehr und kein Ziel. Ich fuhr auch nicht mehr selbst. Jedesmal, wenn ich mich ans Steuer setzte, überfiel mich Panik, und die unsäglichen Schmerzen aus dem Unfall, die Bilder in meinem Kopf von Blut und Knochensplittern, die aus meinem zerrissenem Fleisch ragen, und von dem Holzpflock in meinem Herzen, und das grausame Lachen des Unbekannten kehrten ungemindert zurück. Hin und wieder stieg ich zu jemandem ins Auto ein, weil es schön glänzte, und fuhr ein paar Meilen mit, aber die Wege waren holprig, und mein Herz zuckte nur, anstatt zu schlagen. Nach jenem Coupé, das mich fast getötet hätte, erschien mir alles andere fad und falsch. Ich nahm die Mitfahrgelegenheiten dennoch wahr. Man muß sich ja bewegen, dachte ich. Wohin auch immer. Mag ja sein, daß man doch irgendwann an ein nettes Ziel gelangt, dachte ich. Aber es passierte nicht.

Warum erzähle ich all das? Heute ist es doch auch nicht anders als an allen anderen Tagen der letzten sechseinhalb Jahre. Einer der grauen, ziellosen Wege, auf denen ich gleichgültig umherwanke. Ein fahler Himmel. Der übliche Schmerz in den Beinen, der mich unwillig macht, mich fortzubewegen. Und ein Herz, das nur zuckt, anstatt zu schlagen. Und da steht es plötzlich, das Coupé, tief schwarz glänzend, makellos. In einer Abzweigung unter einer alten Weide mit zwei sich V-förmig spreizenden Stämmen. Und das erste Mal seit sechseinhalb Jahren schlägt mein Herz, anstatt nur zu zucken. Das erste Mal seit sechseinhalb Jahren überkommt mich der Drang, wieder selbst zu fahren.

Ich steige ein. Derselbe Wagen, derselbe Weg. Und derselbe Baum. Von hier aus ging mein Leben kaputt. Ich drehe den Zündschlüssel. Fahre los. Warme Lust durchrieselt mich. Und ich gebe Gas. Werde immer schneller. Rasant nehme ich die Kurven, und auf den geraden Strecken beschleunige ich gierig. Ob die Elektronik diesmal funktioniert? Einen weiteren Unfall kann ich nicht überleben, das ist mir klar. Da ist die Kurve. Ich sehe den Baum auf mich zu rasen.

Aber diesmal fühle ich mich sicher.