Samstag, 22. Oktober 2016

Was ist so toll an der Macht?

Meine Gedanken zum Streben nach Status, Ansehen und Einfluß

Nichts in der Menschheitsgeschichte verwirrt mich so sehr wie das immer wiederkehrende Phänomen der Macht. Ständig ist von gewaltigen Imperien die Rede, von großen Eroberern und genialen Strategen. Ränke werden geschmiedet, Allianzen geschlossen und immer, wirklich immer werden Gegner unschädlich gemacht, um die Macht zu erlangen, zu festigen oder zu vergrößern. Bei einigen wenigen Figuren hat das eine mörderische Eleganz, eine entsetzliche Schönheit; man hat das Gefühl, daß bei ihnen der strategische Aspekt, das erregende, riskante Spiel im Vordergrund steht, jener existenzielle Kitzel auf dem Weg zur Macht, der eine ganz bestimmte Art von Genie erfordert – und anspricht. Bei den meisten jedoch ist das Gebaren so plump, gierig und ungenial, daß man bald zu der Überzeugung gelangt, es gehe ihnen um den Endzustand, das eine und einzige Ziel Macht, zu der der Weg eher brutale Notwendigkeit als selbstbezweckender Reiz ist. Und während ich für die erste Sorte noch ein gewisses spielerisches Verständnis habe, frage ich mich bei der zweiten einfach nur: Warum? Was um alles in der Welt ist so toll daran, die Macht zu haben? Herrschen und unterdrücken zu können? Was ist so erstrebenswert daran, sein Leben den niedersten, häßlichsten, tierischsten Wesenszügen des Menschen zu weihen, zu kämpfen, zu töten, zu zerstören, nur um der Größte und Stärkste zu sein?

Auf den ersten Blick liegt die Antwort nah: Es ist ein tierischer Trieb, ein evolutionär verankertes Streben danach, in der Rangordnung des Rudels und damit bei der Erhaltung der Art ganz vorn mit dabei zu sein und die schwächeren Rivalen auszustechen; letztlich also eine biologisch-sexuelle Veranlagung, an der der Filter menschlicher Vernunft schlichtweg versagt. So weit, so gut.

Humanismus vs. Animalismus - wer beherrscht wen?

Nächste Frage: Warum versagt dieser Filter? Warum steht das Menschliche in uns so selbstverständlich hinter dem Tierischen zurück, wenn es um Macht geht? Oder spezifischer gefragt: Warum wird der Wille zur Macht, der Trieb zum Aufstieg in der Hierarchie, ja das Konzept einer Hierarchie der Stärke an sich eigentlich nie grundsätzlich in Frage gestellt, sondern allenfalls in seinen extremen Spielarten? Beispiel: Über Putin oder Erdogan läßt es sich trefflich ereifern – skrupellose Machtmenschen an der Spitze totalitärer Staatssysteme, die vor Einschüchterung, Lügenpropaganda, vor Krieg und Mord nicht zurückschrecken, um sich und ihre armselige Idee von Größe zu behaupten. Dergleichen wird verurteilt, weil es menschenverachtende, illegale Methoden anwendet. Die Methoden werden dem Urteil und der Kritik einer empörten Moral unterworfen – nicht aber das prinzipielle Verhaltensmuster des Machtstrebens. Nehmen wir zum Beispiel „Game of Thrones“ – eine Serie, deren enormer Erfolg mir schon des unsäglich langweiligen Grundkonzepts wegen unbegreiflich bleibt. Denn in ihr geht es einzig und allein um: Macht. Sämtliche Protagonisten, egal, ob ihr Charakter sympathisch oder unsympathisch gezeichnet ist, wollen nichts als diesen dämlichen Eisernen Thron. Damit sie alle anderen beherrschen können. Und dieses einzige Leitmotiv der gesamten Geschichte wird von niemandem in Frage gestellt. Es ist selbsterklärend, für Millionen von Fans ein faszinierender Kitzel ihrer eigenen, unkritisch akzeptierten Triebe.

Und genau hier, in den Tiefen unserer stammhirngesteuerten Kampfinstinkte zeigt sich ein grundlegender Zusammenhang zwischen despotischer Staatsbeherrschung und dem banalen Karrierestreben durchschnittlicher Managementaspiranten, den wir recht konsequent übersehen. Wir nennen das eine Tyrannei und das andere Erfolg, und doch wird beides getrieben von dem einen Wunsch, das Beste, der Stärkste, der Größte zu sein. Daran messen wir – außerhalb politischer Despotie – sogar den Wert und die Attraktivität von Menschen, um kaum jemand stellt diesen Maßstab in Frage. Denn Macht bedeutet Anerkennung, und die wünscht sich jeder. Ansehen, Stellung, Geld und Einfluß gelten als sexy. So ist es nun mal. Schon im Märchen muß es der Prinz sein, der das Mädchen bekommt, denn nur der, und nicht etwa der anständige, liebevolle Bauernjunge, verkörpert den Traum vom Aufstieg, genau wie „Pretty Woman“ oder „Sex and the City“ keine halb so ergreifenden Liebesgeschichten bieten würden, wären die beteiligten Herren keine Multimillionäre.

Getrieben oder gegossen? Spielarten der Persönlichkeitsverwirklichung 

Nicht falsch verstehen – hier geht es nicht um eine grundsätzliche moralische Bewertung des Erfolgs. Seine Ressourcen optimal zu nutzen und möglichst wirksam einzusetzen, ist nicht per se verwerflich. Ohne Erfolgsstreben gäbe es schließlich keinerlei Fortschritt, weder in der Technologie noch in der Wissenschaft oder in der Medizin. Und ganz ehrlich – ich möchte nicht mehr in einer Welt ohne Antibiotika leben. Es geht vielmehr um die psychologische Triebfeder in uns, die Erfolg überhaupt erst zu einem Wertmaßstab des Lebens erhebt. Und auf dieser Ebene läßt sich denn durchaus eine Verbindung herstellen zwischen den Diktatoren dieser Welt und aufstiegsgeilen Jungbankern. Was diese im akzeptierten Rahmen erstreben, betreiben jene bis zur absoluten Skrupellosigkeit: die Überdurchschnittlichkeit, die Erfüllung allgemein anerkannter Rollenmuster. Und genau das ist es eben: Diese Rollen werden von außen, durch die Gesellschaft festgelegt. Sie sind wie starre Formen, die der Einzelne exakt auszufüllen hat, um Geltung zu erlangen. Und das ist eben alles andere als sexy. Es ist nachgerade armselig.

Ein Bild dazu: Als in meiner Heimatstadt Koblenz 1990 beschlossen wurde, das im Krieg zerstörte Denkmal Kaiser Wilhelms I. wieder zu errichten, wurde eine genaue Kopie des ursprünglichen Reiterstandbildes in Auftrag gegeben. Der einzige Unterschied zum Original war, daß die neue Skulptur aus Kostengründen gegossen und nicht getrieben wurde. Beim Treiben wird dem Blech mit Hammer und Stößel von innen heraus eine von der äußeren Welt nicht vorbestimmte, sondern sich aus sich selbst verwirklichende Form in einem grundsätzlich unbegrenzten Gestaltungsraum gegeben. Beim Guß hingegen ist die Form, der Gestaltungsraum von außen her bis ins Detail fest vorgegeben. Das Material hat sich darin vollständig und präzise zu verteilen – die geringste Abweichung, die kleinste Blase, und der Guß gilt als gescheitert. Und genau so leben die meisten sogenannten Erfolgsmenschen: Um eines vollständig vorherbestimmten Ergebnisses willen füllen sie nach Kräften eine Form, eine Rolle und damit eine soziale Erwartung aus. Denn wo eine äußere Form, eine kollektive Definition bestimmt, was erfolgreich, bewunderns- und erstrebenswert ist, verlieren individuelle Eigenschaften an Bedeutung. Das allgemein gesetzte und anerkannte Lebensziel löst einen kollektiven Wettlauf aus, in dem der egoistische Wille zum Sieg über die anderen das einzige individuelle Moment darstellt. Leistung und Wettkampf werden zur Grundlage des gesellschaftlichen Selbstverständnisses, Erfolg schwillt zur Wertkategorie an. Abweichungen gelten bestenfalls als sonderbar, Rücksichtnahme und Altruismus als Schwäche und Anpassungsschwierigkeiten als Versagen. Die Stärke wird zum ultimativen Maßstab, von der PS-Kraft des Autos bei jugendlichen Heißspornen auf dem Drive-In-Parkplatz über die Zahl der „Likes“ bei Facebook und den hochdotierten Vorstandsposten bis zur Machtentfaltung an der Staatsspitze.

Und da haben wir ihn wieder, den animalischen Kampf des Starken gegen das Schwache. Der menschliche Verstand, die humanistische Einsicht in höhere Zusammenhänge, die fatalen Folgen eines nur auf Wettbewerb gerichteten Wertesystems, all das tritt zurück hinter dem Primat der Durchsetzungskraft. Ein Paradebeispiel hierfür ist Donald Trump, von dem man meinen möchte, er widerlege meine These, da doch kaum jemand seine individuellen Persönlichkeitsmerkmale so hemmungslos zum Lebensentwurf gemacht hat wie er. Tatsächlich aber belegt auch sein Gebaren das gleiche Muster: Wenn er davon spricht, wie toll er ist, verwendet er allgemeingültige Erfolgsklischees als Referenzgrößen; jemand, der nicht soundso viele Arbeitsplätze geschaffen oder Millionen verdient hat, ist für ihn ein Versager und hat ihm nicht zu reinzureden. Die Individualität wird von Herrn Trump zwar im Extrem ausgelebt, aber eben vor der Folie einer vollmundig inszenierten und prinzipiell allgemein anerkannten Erfolgsgeschichte, die seine Exaltiertheiten überhaupt erst rechtfertigt. Einem Wallmart-Kassierer ließe man ein vergleichbares Benehmen nicht durchgehen, geschweige denn, daß er als Präsidentschaftskandidat in Frage käme.

Was wirklich sexy ist? Erfolg als Nebeneffekt.

Gibt es eigentlich etwas Dümmlicheres als die werblich in Dauerschleife inszenierte Siegerpose à la Boris Becker mit aufgerissenem Mund und fanatischem Blick auf die eigene geballte Faust am angewinkelten Arm, die uns das Gefühl des Erfolgs suggerieren soll? Wohl kaum. Und dennoch ist bei den meisten Menschen der Drang, das Leben zu gießen, sehr viel ausgeprägter als es zu treiben. Vorgefertigte Gußformen erscheinen offenbar attraktiver als ein grenzenloser, individueller Gestaltungsraum. Man steigt auf; toll. Man wird Chef; super. Irgendwann noch mehr Chef; Siegerpose. Man baut sich ein großes Haus, einen Palast. Man spielt Rivalen aus, inhaftiert Gegner und bringt Kritiker um. Man lügt, betrügt, man festigt seine Macht und die Gewißheit, daß man nun der Allergrößte ist. Grandios. Aber diese Erreichungen sind Rollenelemente und eben keine persönlichkeitsbildenden Merkmale. Fühlt man sich also wirklich besser? Ist man glücklicher? Glücklich ist doch wohl, wer seiner Innerlichkeit wegen, um der einzigartigen Person willen, die er ist, Anerkennung und Liebe erfährt. Fürchten wir also einen Mangel an Wertschätzung, wenn die Ausgestaltung unserer Innerlichkeit keinem allgemeinen Muster entspricht und daher keinen Wiedererkennungs- und Assoziationswert besitzt? Will man deshalb das eigene Land als Weltmacht sehen, oder die eigene Religion als einzig wahre? Halten wir das, was wir aus uns selbst heraus gestalten könnten, für so viel wertloser als das von außen als Idealziel Vorgegebene? Und wird das Erfolgs- und Geltungsstreben an sich damit nicht zum Ausdruck eines gigantischen Minderwertigkeitskomplexes?

Ja. Die Vorstellung, wir könnten die Wertschätzung unserer Persönlichkeit durch die Erfüllung allgemeiner äußerer Merkmale erreichen, ist einigermaßen irre. Die einzige Erklärung für die Anziehungskraft des allgemein Anerkannten gegenüber dem ganz Persönlichen ist, daß man sich bei ersterem nicht mehr erklären und sozusagen für das Letztere rechtfertigen muß. Das Allgemeine, das Rollenmuster ist selbsterklärend, der Einordnung zugänglich, und überlagert als Image das Individuelle, wie eine Uniform, an deren Gestaltung, Insignien, Orden und Abzeichen sogleich erkennbar ist, was ihr Träger ist. Ämter, Orden, Titel, Preise beweisen Leistung. Besitz verdeutlicht Überlegenheit. Die einen stellen sich betont als VON Weber vor, die anderen bestellen ihre Brötchen in der Bäckerei auf DOKTOR Meier. Kurz: Die Rolle erzählt die Geschichte; der Mensch dahinter bleibt gut versteckt. Wer sich als Persönlichkeit nicht liebenswert genug findet, zieht sich eben auf gelernte Klischees zurück, die ihm unhinterfragt ein Mindestmaß an Anerkennung sichern – so zumindest der Grundgedanke. Daß es sich dabei um einen gigantischen Irrtum handelt, der uns einem echten Anerkennungs- und Glücksgefühl kein Stück näherbringt, weil die Uni(guß)form mit all ihren Insignien eben nur erzählt, WAS, nicht aber WER ihr Träger ist, wird dabei gern übersehen – aus Dummheit, Feigheit oder Bequemlichkeit. Kurz: Die Motivation zu Ansehen, Stellung und Macht wirkt insoweit wie eine psychische Störung und erscheint mehr und mehr als verzweifeltes Surrogat unzulänglicher Persönlichkeiten für eine unabhängige, individuelle Entfaltung ihrer Qualitäten ohne Blick auf Ansehen und Wirkung. Und so geht er weiter, der Kampf um die Macht, die Anerkennung, und er wird wohl zur Not mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Nachteile Dritter geführt – in der Familie, im Unternehmen, im Staat. Es steckt einfach in uns drin, und viele Menschen sind schlechterdings zu schwach, sich der allgemeingültigen Maßstäblichkeit des Erfolgs zu entziehen. Lustig eigentlich, daß sich auf diese Weise die vermeintlich Starken als die eigentlich Schwachen, die angeblich so großen Egos der Erfolgsmenschen als die kleinsten erweisen.

Zum Glück gibt es aber auch andere Erfolgsmodelle (ich sagte ja: Erfolg wird hier nicht als solcher verdammt). Der Gutmenschenerfolg zum Beispiel: Dem Dalai Lama wird der Ausspruch in den Mund gelegt: „Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr. Der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Arten.“ Je nun. Frieden zu stiften, zu heilen und zu lieben sind doch auch Erfolge! Ganz bedeutende sogar, und erst die machen den Erfolg als Kategorie menschenwürdig. Es kommt eben auf die Definition an. Erfolg als Sieg des Stärkeren ist eben nicht, was einen guten Menschen ausmacht, sondern viehisch und würdelos.

Und dann gibt es noch diese Typen, bei denen sich der Erfolg wie zufällig nebenbei einstellt, weil sie es wagen, ihr Leben zu treiben statt zu gießen und ihre ganz eigene Persönlichkeit zum Maßstab zu erheben. Viele Künstler (echte) machen es so, aber auch Unternehmertypen, die eben nicht Erwartungen erfüllen, sondern Visionen entwickeln, die nicht das Ziel des Erfolgs, sondern den Weg der Leidenschaft im Sinn haben. Erfolg als Nebenprodukt schonungsloser, unangepaßter Individualität – das macht nicht notwendigerweise gute Menschen aus, aber es ist zumindest sexy. Sehr viel sexier als der 08/15-Lebenslauf des millionsten Vorstandszombies oder die dumpfe Tyrannei despotischer Diktatorenzwerge.

Was also ist so toll an der Macht? Meine Antwort: Nichts, was eines Menschen würdig wäre. Absolut gar nichts.