Dienstag, 18. April 2017

Die Bewahrung des Eigenen

oder: Warum eine starke Identität nicht um ihren Bestand fürchten muß

Gestern geriet ich auf der Facebook-Seite eines AfD-Vertreters in eine Diskussion um Identität und die Bewahrung des Eigenen, und während ich noch darüber staunte, mich zu dem bildungsfernen Unfug, der da (als bedeutungsschwere Videobotschaft inszeniert, so mit Frauenkirchenkulisse und wehendem Haar) geredet wurde, überhaupt zu äußern, und mich der treudoofe Beifall des "dunkeldeutschen Publikums" (so der haarumwehte Videoautor höchstselbst) befremdete, begann das Thema, mich - nicht zum ersten Mal - zu beschäftigen.

Vom deutschen Selbsthaß war da die Sprache, und der Aufgabe des Eigenen zugunsten des Internationalen. Die Leute wollten vor lauter Herkunftsverleugnung nicht mehr Deutsche, sondern (Achtung: Empörungsmodus ein!) Menschen sein!! Warum man denn nicht mal wieder zum Kyffhäuser spaziere, die Architektur um einen herum betrachte und seinen Kindern Grimms Märchen vorlese und so. Das war in etwa das Niveau.

Besonders seltsam kommt mir immer vor, wie schwach man die eigene Identität finden muß, wenn man sie schon durch ein paar internationale Einflüsse bedroht sieht. Abgesehen davon, daß die "deutsche Kultur" immer, wirklich immer durch äußere Einflüsse verändert und ergänzt, bereichert und machmal auch radikal umgekrempelt wurde (siehe etwa die Christianisierung Germaniens oder die Verkartoffelung der preußischen Landwirtschaft), fühle ich mich durch eine weltoffene Einstellung weder in meiner seit 800 Jahren belegten deutschen Herkunft, noch in meiner Rezeption von klassischer Musik, Architektur, Kunst und Geschichte auch nur im Mindesten gefährdet. Ich bin mir meines Deutschseins absolut bewußt und gewiß; dafür muß ich wahrlich nicht (ausgerechnet!) zum Kyffhäuser-Denkmal rennen. Eben dieses aus meiner Kenntnis der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte erwachsenden Bewußtseins wegen leuchtet mir die "Argumentation" des Frauenkirchenkulissenregisseurs nicht ein, die bereits daran scheitert, das Eigene, das "Deutsche" als ein ebenso statisches wie homogenes Phänomen vorauszusetzen.

Und auch dieser ständig behauptete Selbsthaß ist meines Erachtens ein Pappkamerad. So gut wie niemand empfindet ihn wirklich; das winzige Häufchen versprengter Möchtegernrevoluzzer, das so dämliche Parolen wie "Nie wieder Deutschland" an Wände malt, ist doch wohl kaum repräsentativ und drückt schon gar kein allgemeines gesellschaftliches Empfinden aus. Tatsächlich fällt mir nach 10 Jahren im Ausland immer wieder auf, wie locker und selbstbewußt die allermeisten Deutschen mittlerweile mit ihrer Nationalität und deren Symbolen umgehen - sehr anders als in meiner Jugend. Und dafür muß ich hier nicht mal das Sommermärchen bemühen.

Deutschland ist traumschön und reich an Geschichte, Kultur und Tradition, keine Frage. Ich hasse und verleugne es kein bißchen, ganz im Gegenteil: Wenn ich von Wien nach Hause an den Mittelrhein fahre, wird mir spätestens bei Bingen fast schwindlig vor Heimatliebe und Zugehörigkeit. Ich spüre quasi körperlich die jahrhundertelange Verwurzelung meines Blutes in dieser Landschaft, und fühle mich zutiefst durchdrungen von diesem Stück deutscher Seele, und auch den Rest meines Vaterlandes kenne ich durch meine Reisen ziemlich gut.

Aber gerade dieses innige Empfinden von Identität rüstet und stärkt mich gegen jede Angst, internationale Einflüsse könnten mir da etwas verwässern. Wie sollten sie? Allenfalls vermehren sie die Farben und Blüten am deutschen Lebensbaum - seine Wurzeln sind stark genug, sie mitzutragen! Bei mir jedenfalls.

Sonntag, 16. April 2017

Wie Jesus mein Leben ruinierte

Irgendwann war er da, dieser Jesus, angekommen in meinem Leben durch das tiefe, wohlige Einatmen der religiösen Schwebeteilchen in der Atmosphäre meiner Herkunft, und er fand in mir einen sofortigen Bewunderer. Was für ein Mensch! Mutig und unbeirrbar, charismatisch und wundertätig, und dabei doch nie getrieben von Geltungssucht und Eigennutz, sondern einfach nur durchglüht von Liebe und Güte allen Menschen gegenüber, sogar Feinden und Sündern. Nie setzte er seine revolutionären Lehren mit Gewalt, Herabsetzung, Macht oder List durch, sondern war allein durch die Kraft seiner Worte und die Güte seiner Taten zutiefst überzeugend.

Der Glaube an den Frieden, der nur möglich wird, wo er reinsten Herzens gewollt ist, setzte sich früh in mir fest, und die Überwindung der Grobheit, des Streites und Wettbewerbs, des eigennützigen Gierens nach Vorteilen, Macht und Herrschaft durch Bescheidenheit, Verzicht, Gemeinschaft und Güte schien mir (und scheint mir bis heute) die höchste Entwicklungsstufe zu sein, die der Mensch zu erreichen vermag. Wie schlicht kamen mir dagegen die Menschen vor, die das Leben als Kampf sahen, wie allzu sehr von dieser Welt, wie viehisch gar die Gestalten, die stumpfen Sinnes stets die Besten und Stärksten sein wollten und in ihren tumben Triumphen Befriedigung suchten.

So wollte ich nicht sein. Ich wollte es lieber wie Jesus machen und Güte walten lassen, auch wenn es mir Nachteile brächte. Sich durchsetzen, stark sein, etwas gelten, Leistung, Anerkennung - diese Begriffe wurden mir zu widerwärtigen Vokabeln niederer, selbstsüchtiger Lebensentwürfe, die ewigen Wettstreit, Eifersucht und Ehrgeiz erzeugten, eine Systematik von Über- und Unterlegenheit schufen und damit nichts als Unfrieden in die Welt brachten.

In meiner Überzeugung, mit meiner Wahl richtig zu liegen, wurde ich lustigerweise noch bestärkt durch so fulminante Filme wie "König der Könige" oder "Quo vadis?", die meine Kenntnis der Bibelgeschichten mit einer pathetischen Begeisterung aufluden. In diesen Werken wuchs, was etwa mein Großvater mir in bescheidener Eindringlichkeit vermittelt hatte, zur monumentalen Bestätigung heran: Wie sehr identifizierte ich mich mit diesem Johannes, der in schmutzigen Lumpen die Taufe spendete und doch über das eitle Prunkgehabe des Herodes Antipas so meilenweit erhaben war; wie innig verband ich mich mit Jesus, den die weltliche Macht zu brechen glaubte, weil sie nicht verstand, wie bedeutungslos ihre Werte in den Augen seiner allmächtigen Liebe waren; und wie leidenschaftlich wurde ich eins mit den Christen, die in der Arena zur Erheiterung eines herzensdummen Weltmachtpöbels (ganz gleich ob in der Kaiserloge oder auf den einfachen Zuschauerrängen) den Löwen vorgeworfen wurden - und dabei sangen, weil sie sich ihrer Unbesiegbarkeit jenseits aller irdischen Machtverhältnisse so ungemein bewußt waren.

Und so verweigerte ich mich jeder Lebensgrobheit, haßte Noten, Zeugnisse und die Bundesjugendspiele, ballte nicht mal im Gehen die Hände zu Fäusten, weil mir diese Geste, auch wenn sie nur der Kälte geschuldet war, zu aggressiv, zu verwandt der Körpersprache jener rauhen Naturen schien, denen ich mit reiner Güte zu begegnen trachtete. Ein warmes Mitgefühl durchströmte mich, eine hochsensible Abneigung dagegen, jemanden schlecht aussehen zu lassen oder ihm einen Nachteil zuzufügen. Christ, ja mehr noch: ein Jünger Jesu zu sein, erfüllte mich mit einem trotzigen Stolz, der mich über die niederen Kämpfe des Lebens erhob und mir die Gewißheit gab, am Ende doch auf der Siegerseite zu stehen.

Diese Gewißheit erfüllt mich heute noch, und so stolz ich einerseits auf diese Entwicklungsstufe bin, so verheerend wirkt sie sich zuweilen im existenziellen Alltag aus. Denn die Mehrheit der Menschen folgt nun einmal eher evolutionären als göttlichen Mechanismen, und die Gesellschaft definiert immer noch die egoistischsten und rücksichtslosesten Vertreter der Spezies als "Gewinner", die eben nichts als ihre Interessen im Sinn haben, darin sogar echohaft bestätigt werden und so die Maßstäblichkeit weltlichen Erfolgs dynamisch am Leben erhalten.

Diesen ewigen Kampf nicht aus Schwäche oder Feigheit (wie gern behauptet wird), sondern aus Güte und Gleichmut immer wieder zu ignorieren, mag zwar eine gewisse moralische Befriedigung bergen, zeitigt aber auch ein häufiges "Verlieren" oder zumindest Hintanstehen. Wenn im Supermarkt endlich die zweite Kasse geöffnet wird, fehlt mir jeder Impuls, als erster hinzustürmen und den Zeitvorteil einzuheimsen; ich überlasse es im Gegenteil mit gütiger Freude jenen Menschen, die darin einen tatsächlichen Gewinn sehen. Am überfüllten Tresen warte ich länger als jeder andere auf mein Getränk, weil mir der Drang zum Drängeln fehlt, und wo es im Geschäftsleben darum geht, dreist und eigensüchtig seinen Vorteil zu sichern, ziehe ich oft den Kürzeren. Mir ist das alles zu banal, zu stumpf, zu diesseitig und zu nutzlos, und tief, sehr tief hat sich die Botschaft Jesu bei mir eingebrannt, im Zweifel auch die andere Wange hinzuhalten, Seligkeit in der Sanftmut zu finden und wie die Lilien auf dem Felde darauf zu vertrauen, daß mich mein himmlischer Vater ja doch ernährt. Was er tatsächlich tut.

Die Teilnahme am Dasein, so wie es nun mal ist mit all seinen viehischen Trieben und evolutionären Impulsen, hat mir Jesus mit seinem liebestrunkenem Hippietum gründlich verdorben. Seine Lehre wirkt sich auf mein Leben als erhebliche Erschwernis aus, weil mir (mangels Sinnerkennung) jeder Antrieb fehlt, die allzu weltlichen und irgendwie sogar sündhaften Regeln des "Gewinnens" und "Aufsteigens" zu befolgen. Nicht ganz einfach, nur durch Qualität und ein integeres Wesen zu überzeugen. Aber machbar. Und im Herzensgrunde wollte ich es, allen Schwierigkeiten zum Trotze, auch gar nicht anders haben.

Dienstag, 11. April 2017

Der Haß aufs Relative

oder: deutsche Debattenkultur 2017

Wenn man sich schreibend hinauswagt in die Öffentlichkeit und in Worte kleidet, woran man glaubt und was man sich wünscht, dann muß man mit Widerspruch rechnen. Und das ist auch gut so: Zweck einer Meinungsäußerung ist ja nicht der Applaus, sondern die Debatte, das gegenseitige Verstehen von Bedürfnissen, Antrieben und Handlungsmotiven, und auf dieser Basis vielleicht sogar eine Lösung, mit der alle leben können. Denn zusammen leben müssen wir ja nun mal.

Die Realität, die ich im täglichen Widerspruch erfahre, sieht indes anders aus. Verständigung scheint für manche gar nicht erstrebenswert. Erst kürzlich erklärte man mir, ich sei indifferent, weil ich mir (einem moralischen Imperativ folgend) immer beide Seiten anhöre; ich surfe glatt zwischen allen Stühlen, stellte mich mit allen gut und vermiede eine eigene Position. Diese Ignoranz, diese Harmonie-Chose sei das Gegenteil von wahrer Toleranz und nachgerade unlauter.

Mein Einwand, daß ich einen Standpunkt ja nur aus der Kenntnis und Analyse aller möglichen Meinungen und der diskursiven Auseinandersetzung mit anderen Betrachtungsweisen entwickeln könne und im Übrigen einfach neugierig darauf sei, wie und warum Menschen zu bestimmten Ansicht gelangten, wurde als fürchterliches Geschwätz bezeichnet. Je nun.

Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, daß im Zeitalter der wütenden Meinungsschlachten insbesondere auf Facebook eine differenzierte Betrachtung, ein vorsichtiges Verstehen und Beleuchten bei bestimmten Leuten regelrechten Haß auslöst. Nur noch das Absolute gilt als „klar“ und stark. Das Relative, das nicht in polternder Selbstsicherheit daherkommt und alles andere plattwalzt, sondern sich Zweifel, Thesen, Perspektivenwechsel und die Integration verschiedener Aspekte ins eigene Ergebnis erlaubt, wird angefeindet und beschimpft.

Da ist es also wieder, das Stammhirndenken, das nur totale Antworten kennt, den Kompromiß verachtet und nicht den Diskurs, sondern den Existenzkampf sucht. Ich werde nicht müde, diese Reanimalisierung des Menschen anzuprangern, denn das Viehisch-Absolute, der brutale Darwinismus des Stärkeren hat der Welt nichts Gutes zu bieten. Schon gar nichts, womit alle leben können. Und zusammen leben müssen wir ja nun mal.