Dienstag, 23. Mai 2017

Traum und Wunder

„Schließe deine Augen“, haucht der Traum, „und sieh, wie schön ich bin! Ich will dich betören, dir blendende Bilder malen aus der Glut deiner Wünsche, so prachtvoll, daß du taumelst vor Wonne, und dein Geist zerfließt in Licht und Lust! Ein Paradies will ich erschaffen, dessen goldene Pforten dir einen Garten der süßesten Verheißungen eröffnen, bis alle Worte ertrunken sind in der sanft und jäh steigenden Flut des Gefühls! Komm, versenke Dich in mir! Sieh, wie meine Augen sich in sanfter Liebe weiten bei deinem Anblick, wie meine Lippen erglänzen in der Ahnung unseres Kußes - bald, sehr bald... Sieh, wie der Abend sein goldenes Licht auf den glänzenden Matten ausrollt, unsere umschlungenen Körper zum Liebesspiel zu betten. Gib dich ganz und gar mir hin und laß alles andere fahren. Was immer Du begehrst – zum Greifen nah stelle ich es Dir vor deine entzückten Augen!“

„So schön wie der Traum bin ich nicht“, wispert das Wunder, „und der Garten, den ich dir erschließe, ist nicht so prächtig wie das Paradies deiner Sehnsucht. Ich bekenne dir sogar, daß ich gar nicht weiß, wie er aussieht. Steinig, üppig, sandig oder sumpfig, fruchtbar oder dürr, wild oder geordnet... er ist ein unbekanntes Land. Ich öffne nur das Tor. Das Tor, das für immer verschlossen war, zugewuchert von Bitterkeit und Verzweiflung. Nun steht es offen. Das ist meine Tat und mein Geschenk. Du mußt selbst hindurchgehen, vielleicht kämpfen, vielleicht suchen. Vielleicht selbst ein Paradies erschaffen. Oder eines finden. Das Ungewisse ist der Preis des Echten. Denn der Traum verspricht, ich aber geschehe. Der Traum führt das Denkbare vor, ohne es je zu erfüllen. Ich aber gewähre einen einzigen Augenblick, in dem das Undenkbare zur machbaren Wirklichkeit wird. Sofern du es machst.“

„Nun wähle, Narr, und sei verloren!“ flüstert das Leben.