Mittwoch, 5. Juli 2006

Laßt sie hängen!

Innerhalb weniger Sekunden war er zerplatzt, der große Traum vom deutschen Finale in Berlin, und die Stimmung, die sich im Laufe dieser WM nach jedem Sieg unserer Elf so euphorisch in Autokorsos und Straßenpartys entladen hatte, war dahin. Geknickt, betroffen und enttäuscht schlichen die meisten nach dem verpassten Finaleinzug nach Hause. 

Nur ein paar Unerschütterliche ließen sich das Feiern nicht nehmen und gesellten sich zu den überglücklichen Italienern. Und Recht hatten sie! 

 

Denn erstens gibt es keinen Grund, angesichts der deutschen Beteiligung am Halbfinale in Trauer zu verfallen – wer kann denn ehrlichen Herzens behaupten, vor vier Wochen auch nur entfernt mit einem solchen Turnierverlauf gerechnet zu haben? 

 

Und zweitens sind wir immer noch Gastgeber dieser WM. Wir alle haben in unserem Land für Einwohner und Besucher ein wundervolles Fest veranstaltet. Jeder, der auch nur einmal einem ausländischen Gast den Weg erklärt oder bei Sprachschwierigkeiten geholfen hat, hat zum Gelingen dieser Weltmeisterschaft beigetragen. Nie zuvor hat man Deutschland so weltoffen, so freundlich, so positiv und so lebensfroh erlebt wie in den vergangenen drei Wochen. Im schwarz-rot-goldenen Taumel ist nicht nur ein bemerkenswertes Zusammengehörigkeitsgefühl all derer entstanden, die in diesem Lande leben, sondern auch eine Kultur der Gastfreundschaft, des friedlichen Zusammenseins, Feierns und Fieberns mit unseren Gästen, die hier wirklich bei Freunden waren.

 

Darum bitte ich Euch: Laßt sie hängen! Nicht die Köpfe, denn nach diesem großartigen Fußballfest, das wir alle gemeinsam ausgerichtet haben, können wir froh und glücklich über uns selbst und unser Land sein! Auch nicht die deutschen Spieler, denn das wäre nicht nur illegal, sondern auch völlig unangebracht – ihre Leistung war grandios, von Anfang an überzeugend und hat alle Erwartungen übertroffen. Nein, die Fahnen! Laßt sie hängen, aus Euren Fenstern, an Euren Autos, auf den Plätzen und auf den Straßen, in Geschäften, Biergärten und Kneipen!

 

Denn die Farben Schwarz, Rot und Gold stehen seit 174 Jahren für all das, was wir während der WM erlebt haben – Offenheit, Freundschaft, Verständigung, und den unbedingten Glauben daran, daß man gemeinsam alle Ideale erreichen und verwirklichen kann. Nicht umsonst wurde die Fahne in ihrer heutigen Form zum erstenmal bei einem Fest gezeigt – dem Hambacher Fest 1832, eine fröhliche und friedliche Party, bei der alle in der Begeisterung für eine gemeinsame Idee aufgingen. Niemals wurde unter der schwarz-rot-goldenen Fahne ein Krieg geführt – das würde auch allem widersprechen, wofür diese Farben von Anfang an standen: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und die friedliche Verständigung aller Völker und Rassen. In diesem Sinne ist unsere Fahne eigentlich kein streng „nationales“, oder jedenfalls kein völkisches Symbol. Schwarz, Rot und Gold sind die Farben jedes Menschen, der in diesem Land friedlich und gesetzestreu lebt.

 

Die gemeinsame Idee von uns selbst, die „Ahnung des Möglichen“ ist uns im Laufe unserer nicht immer glücklichen Geschichte jedoch verdächtig geworden und verloren gegangen. Oft genug beneiden wir etwa die Amerikaner oder Franzosen um ihr unverkrampftes Selbstbewußtsein, verkennen aber, daß diese Form des Patriotismus nicht verordnet werden, sondern nur aus eben jener gemeinsamen Idee des Volkes (und nicht seiner Führer!) von sich selbst erwachsen kann. Lange hielt man es jedoch für klüger, jedes (gründlich wie wir Deutsche eben sind! Jedes!) Gemeinsamkeitsgefühl zu unterdrücken und als faschistoid zu denunzieren.

 

Der Fußball hat uns für ein paar Wochen eine gemeinsame Idee zurückgegeben, und wer könnte sagen, daß er sich damit nicht irgendwie besser gefühlt hat? Erhalten wir uns dieses Gefühl! Weiten wir es aus auf den deutschen Alltag, der uns nach dem 9. Juli wieder einholen wird! Das kann nicht bedeuten, daß wir damit keine Sorgen und Nöte mehr hätten. Aber der Glaube an die Überwindbarkeit aller Probleme in der gemeinsamen Anstrengung gibt nicht nur Kraft, sondern auch Sinn und macht das Leben reicher, schöner und erfüllter. 

 

Dafür steht die schwarz-rot-goldene Fahne, und ich wünsche mir, daß sie nicht nur ein saisonales Fußballaccessoire bleibt, sondern ein gemeinsames Symbol für eine positive, fröhliche, freundliche und hilfsbereite Stimmung in Deutschland. Die schwarz-rot-goldene Party, die wir hier gefeiert haben – am 3. Oktober würde ich sie gern wiedererleben. Und auch ein paar Fahnen sehen.