Dienstag, 31. Dezember 2019

Willkommen in den 20ern

Ein Silvestergedanke

Klar - ich find's auch irgendwie lässig zu sagen, wir leben jetzt in den 20ern! Sieht man mir, glaube ich, an.

Aber so sehr der Gedanke an jenes Jahrzehnt bei uns Bilder von schmucken Kavalieren in Frack und Zylinder und schlanken Mädchen mit breiten Stirnbändern und langen Perlenketten weckt, die unverblümt rauchen und zu heißen Charleston-Rhythmen tanzen, so sehr wir an das wilde Berlin von Klaus und Erika Mann denken und uns darin gefallen, diese Zeit auf Gatsby-Partys idealisierend aufleben zu lassen, so sehr sollten uns auch - ohne unmittelbare historische Vergleichbarkeit - die Gefahren und Fehler jener Epoche, die Radikalisierung der Gesellschaft und der Haß auf alles Andersartige, der in die Katastrophe führte, dazu inspirieren, uns den immensen Herausforderungen zu stellen, die unsere 20er Jahre prägen werden.

Der Weltfrieden scheint zuweilen ähnlich bedroht wie das Klima, und die Freiheit, deren rauschender Ausdruck das Lebensgefühl der Goldenen 20er unter Gustav Stresemann sein mag, ist ein Gut, das es wachsam zu schützen und zu verteidigen gilt. Die gleichen Jahreszahlen, die selben Nationalfarben....

Die Reminiszenz an die Ästhetik und das provokante, ausgelassene Lebensgefühl dieser Zeit macht Spaß - das ist ganz in Ordnung! Sehen wir zu, daß unsere 20er zu besseren 30ern führen als die des letzten Jahrhunderts!

Dienstag, 26. November 2019

Rassismus für Anfänger

"Extremely offensive" nannte man mich neulich. "Incredibly racist". Wer mich kennt, wird hier wohl ein wenig staunen, und so ging's auch mir. Ob ich sie noch alle habe, fragte mich ein anderer, zu dessen Position an sich eine etwas gewähltere Ausdrucksweise gehören sollte, aber offenbar endet jeder Respekt, sobald man glaubt, anderen Respektlosigkeit bescheinigen zu dürfen. Etwas so extrem Rassistisches zu sagen, das gehe gar nicht. Was war geschehen?

Ich hatte eine blöde Bemerkung gemacht. In einer Teambesprechung in kleiner Runde, in der jeder kurz darlegt, was sich gerade tut, habe ich von den anstehenden Präsentationsproben mit einem Team indischer Kollegen erzählt und mich zu dem fraglos dämlichen Scherzlein hinreißen lassen, es sei nicht immer einfach, mit einer Gruppe von Leuten zu proben, die alle klingen wie Apu aus den Simpsons. Unbedacht, wenig sensibel, kränkend vielleicht - ja. Hätte ich mir sparen können. Und selbstverständlich habe ich mich für eventuell verursachte Verletzungen sofort entschuldigt, denn es liegt mir nicht nur fern, sondern ist mir nachgerade wesensfremd, irgendwen mit Wissen und Wollen zu verletzen oder sich auch nur schlecht fühlen zu lassen. Erziehungssache, ist halt so.

Respekt ist vermutlich die fundamentalste Regel, die mir in meiner Kindheit beigebracht wurde. Respekt vor allem, was lebt, vor jedem Menschen, gleich welcher Herkunft oder welchen Standes, Respekt vor dem Küchenmädchen ebenso wie vor dem Fürsten, vor dem Hausmeister wie vor dem Professor – für jede Übertretung, jede Ungleichbehandlung, jede Überheblichkeit hätte man mir (völlig zu recht) die Ohren langgezogen. Es war und ist ein Respekt, der sich aus der profunden christlichen Überzeugung speist, daß alle Menschen gleichermaßen wertvoll, gleichermaßen berechtigt und gleichermaßen von Gott geliebt sind, ein Respekt, der tief in Demut und Dankbarkeit für eine fraglos privilegierte Herkunft, im Verantwortungsgefühl für alle, denen es weniger gutgeht und in einer universellen, grundsätzlichen Menschenliebe wurzelt. Diese Werte durchdringen mich bis heute und schlagen sich nicht nur in sozialem und politischem Engagement oder in meinen Schriften und Beiträgen zum öffentlichen Diskurs, sondern auch darin mehr als deutlich nieder, der Putzfrau die Türe aufzuhalten und mich beim Müllmann für die Entsorgung meiner Abfälle zu bedanken.

Umso perplexer war ich zunächst ob der heftigen Reaktion, die ein vielleicht nicht eben geschmackvoller, aber doch ganz offenbar auch nicht aus Haß oder rassischem Überlegenheitsgefühl erwachsener Scherz hervorrief. "It's not your decision how I feel about it", war die Antwort meiner Kollegin, als ich das zu erklären versucht habe.

All das hat mich nachdenklich gemacht. Selbstverständlich sollten wir alle achtsam sein gegen unseren Nächsten, auch und gerade in dem, was wir wie sagen. Ebenso offensichtlich scheint mir jedoch, daß die nervöse Überempfindlichkeit, die in den letzten Jahren gegen jede noch so geringfügige "politische Unkorrektheit" entstanden ist, dem gesellschaftlichen Miteinander und der Debattenkultur auch nicht guttut. Denn erstens verlocken allzu restriktive Regeln erstrecht zur Übertretung, und die Extreme werden lauter. Wo Pipi Langstrumpf oder Sternsinger auf einmal rassistisch sind, ist Empörung absehbar. Und zweitens entwerten wir unsere Begrifflichkeit und damit unser Vermögen, die Phänomene unserer Zeit sprachlich zu erfassen, zu beschreiben und damit die Voraussetzung für ihre Lösung zu schaffen, wenn wir die härtesten, die absolutesten Formulierungen inflationär gebrauchen und schon gegen die kleinsten Verfehlungen die schwersten Wortgeschütze auffahren.

Wenn mein dummer, gedankenloser Spruch "extrem rassistisch" war, wie bezeichnen wir dann das Anzünden von Asylantenheimen, das Totprügeln von Mitmenschen anderer Hautfarbe, die alltäglichen Hetzreden und Vergasungsphantasien auf Facebook? Welche Begriffe bleiben für das abgrundtief Böse, wenn schon über das Geschmacklose sprachliche Höchststrafen verhängt werden? Wie beschreiben wir Haß und Grausamkeit, wenn eine blöde Stichelei bereits das gesamte Arsenal verbaler Gegenwehr mobilisiert? Und vor allem: Wie reagiert der Durchschnittsmensch, wenn man ihn aufgrund einer gefühlten Petitesse niederbrüllt? Mit Einsicht? Oder eher mit Trotz und dem unbedingten Willen, seine Grenzen beim nächsten Mal vielleicht noch weiter und provokanter auszureizen, mehr Tabus zu brechen aus falsch verstandener Widerständigkeit? Bei den AfD-Anhängern und PEGIDA-Spazierern ist diese Spirale deutlich zu beobachten. Zum Verständnis: Meine Reaktion ist das nicht; ich gebe es nur zu Bedenken.

Nein, den Rassismus-Schuh ziehe ich mir nicht an. Dazu ist mir die Beurteilung des Sachverhaltes zu wenig kontext- und persönlichkeitsbezogen, zu platt, zu undifferenziert. Weil es sich im scheinmoralischen Glanz der politischen Korrektheit einfach gut leuchten läßt – eine relativierende Betrachtung nimmt da nur den Schwung aus der lustvollen Heftigkeit des Urteils. Wenn jemand sich gekränkt fühlt, bin ich jederzeit bereit, mich zu entschuldigen. Die Deutungshoheit über meine Motivation oder meinen Charakter jedoch werde ich nicht den Hysterikern überlassen.

Lustige Fußnote übrigens: Die empörte Kollegin, eine mit einem Deutschen verheiratete Schottin, die in Deutschland lebt und arbeitet und fließend Deutsch spricht, und der es nicht zu hochgegriffen war, mich "extremely offensive" zu nennen, hat sich – ihren Maßstäben nach – selbst einigermaßen "offensive" verhalten. Ein Gespräch, das wir dieser Tage hatten, habe ich bewußt auf Deutsch begonnen. Sie aber hat konsequent nur Englisch gesprochen, bis ich mich, nach einigen erfolglosen Versuchen, beim Deutschen zu bleiben, eben angepaßt habe. Ich darf mich nun wohl in meinem eigenen Land sprachlich diskriminiert fühlen, linguistisch unterdrückt und kulturell beleidigt. Denn Sprache ist Macht, Sprache ist Herrschaft. 'Stell dich nicht so an', mag man entgegenen, 'das ist nun mal Eure Arbeitssprache, und solche Kleinigkeiten sind wohl schwerlich Diskriminierung!' Aber wie sagte sie selbst so schön: "It's not your decision how I feel about it!"

Freitag, 11. Oktober 2019

An impact that matters

Sie bewegt sich auf mich zu, klein, gebückt, in langsamen, schlurfenden Schritten, als habe sie Schmerzen in den Beinen. Einen uralten, leichten Anorak trägt sie, dazu die billigste Jeans, die man sich vorstellen kann, und ebensolche Turnschuhe. Das einzige Dekoelement ist ein schwarz-rot gemustertes Tuch, das sie, einen langen Zipfel auf der Brust, den anderen auf dem Rücken, um ihren Hals trägt. Sie mag um die 70 sein; ihr Gesicht ist rund und zeigt den Ausdruck jener duldsamen Gutmütigkeit, die langes Leiden hervorbringt. Von ihrem Kopf hängt bis auf Kinnlänge strähniges, dünnens Haar, das aussieht, als sei es eine Weile nicht gewaschen worden, aschgrau, genau wie ihre ungepflegte Haut.

Ich sehe sie ein, zwei Leute ansprechen, die den Kopf schütteln, und mir ist klar, was jetzt kommt. "Können Sie mir vielleicht mit etwas Kleingeld helfen?" sagt sie mit einem verlegenen Lächeln, das schlechte Zähne zwischen ihren spröden Lippen preisgibt. "Ich habe keinerlei Kleingeld dabei!" lüge ich reflexhaft, denn allzu viel hört man von organisierten Bettlerbanden und kriminellen Kartellen, und ich meine, in ihrer leidenden Gutmütigkeit nun eine verzweifelte Note wahrzunehmen. Sie geht weiter, und im selben Moment überrollt mich eine Welle tiefer Scham.

Da sitze ich überhebliches Arschloch in meinem Maßanzug und mit einer Rolex am Handgelenk, die vermutlich mehr gekostet hat, als diese Frau im Jahr an Rente bekommt, warte mit meinem Erster-Klasse-Ticket auf den Zug, der mich in die teuerste Stadt Deutschlands fährt, in der ich ein mehr als komfortables Leben führe - und lüge aus purem Vorbehalt dieser ganz gewiß nicht kriminell organisierten deutschen Rentnerin vor, die vier Euro fünfzig Wechselgeld vom Taxi gerade eben nicht in der Westentasche zu haben. Ich schaue ihren weiterhin erfolglosen Versuchen zu, den Menschen fünfzig Cent abzubetteln, und ekele mich vor mir selbst. Meine Finger gleiten in die Westentasche, zu den Münzen. "Schauen Sie, ich habe doch noch was gefunden!" - ja, das könnte ich sagen. Aber für die Schäbigkeit meiner ersten Reaktion ist das keine ausreichende Wiedergutmachung.

Also nehme ich einen Zehn-Euro-Schein aus meiner Brieftasche - Himmel, selbst das scheint mir kleinlich; zehn Euro, oder auch zwanzig, gebe ich für einen Drink aus, ohne auch nur drüber nachzudenken - und gehe der Frau hinterher. Gerade als ich sie erreiche dreht sie sich um und steht direkt vor mir. "Es muß ja nicht immer Kleingeld sein!" sage ich und reiche ihr den Geldschein. Etwas ungläubig starrt sie auf meine Hand, nimmt dann den Schein, und ihr Gesicht erstrahlt. Lächelnd sieht sie zu mir herauf, mit ihren schlechten Zähnen und den porösen Lippen, nimmt mich fest in den Arm und sagt mit bebender Stimme: "Das ist so nett von Ihnen! Jetzt kann ich nach Hause fahren!" Und ich erwidere die Umarmung, drücke sie an mich und lächele zurück. "Danke vielmals", sagt sie dann, meine Hand in ihren haltend, "ich wünsche Ihnen, daß Sie das niemals tun müssen! Ich habe immer gearbeitet, und jetzt bekomme ich 700 Euro Rente im Monat, sammele Flaschen und muß Leute um Kleingeld bitten!" Und wir unterhalten uns ein wenig. Es sei so schwer, erzählt sie, und ich solle bloß nicht krank werden und in Frührente gehen müssen - dann sei ich verloren! Niemals solle mir das passieren, das wünsche sie mir. Und eine gute Heimfahrt. Und sie küßt meine Hand, die sie immer noch festhält, und mir steigt ein Kloß in den Hals. Dann trennen wir uns.

"Making an impact that matters" lautet das Motto des Beratungsunternehmens, in dessen glanzvoller Zentrale ich die Arbeitswoche verbracht habe. Jetzt, auf dem Bahnsteig, in der dankbaren Umarmung dieser elenden kleinen Frau habe ich verstanden, was das wirklich heißt.

Mittwoch, 4. September 2019

Gegensatz, Aufgabe, Chance

Die Globalisierung und der neue Nationalismus

Während die großen Konzerne der Welt die Globalisierung vorantreiben, entsteht in vielen Ländern rund um den Globus, besonders aber in Europa und den Vereinigten Staaten, zunehmend ein neuer Nationalismus. Was in den Gesellschaften als unterschwelliges Randphänomen schon immer vorhanden war, hat durch regionale Konflikte, Kriege, Hungersnöte, wirtschaftliche Miseren und die dadurch ausgelöste Massenmigration, aber auch durch eine wachsende Angst vor der Größe, Macht und Intransparenz der Wirtschaftsgiganten einen Auftrieb bekommen, den es sehr wachsam zu beobachten und nach Kräften einzudämmen gilt.

Ganz unverständlich ist es nicht, dass Otto Normalverbraucher ein gewisses Misstrauen gegen die marktbeherrschenden Konzerne entwickelt. Immer globaler werden ihre Netzwerke, immer komplexer die Strukturen und Abhängigkeiten, und immer weniger durchschaubar die steuerlichen Tricks, mit denen nationale Abgaben minimiert werden. Die Kehrseite der Globalisierung ist ihre Intransparenz, und Intransparenz erzeugt nun einmal eine instinktive Ablehnung. Dazu kommt, dass nicht nur Kriege und Diktaturen, sondern auch die internationale wirtschaftliche Verflechtung Wanderungsbewegungen erzeugt, die alte Identitätsmuster verändern. Die Welt, in der wir leben, erfordert ein Um- und Neudenken, und das kann nicht bei jedem mit der rasanten Entwicklung Schritt halten. Die anfängliche Ablehnung, die man in der Wirtschaft aus jedem Veränderungsprozess kennt, ist also nachvollziehbar.

Unschön ist hingegen, wie sich diese Ablehnung manifestiert – nationalistische, fremdenfeindliche und rassistische Töne werden lauter; rechtsradikale Parteien erzielen zweistellige Wahlergebnisse, und die öffentliche Debatte ist zunehmend von Aggressivität und Intoleranz geprägt. Und auch unter dem Banner (vorgeblicher) linker Überzeugungen wird gegen die Globalisierung aufbegehrt – die Bilder des in Hamburg wütenden Schwarzen Blocks bleiben in eindrücklicher Erinnerung. Die politische Entwicklung scheint der immer globaler werdenden Wirtschaft geradezu entgegenzulaufen – ein Kontrast, den es im Interesse unseres Wohlstandes und gesellschaftlichen Friedens dringend zu lösen gilt.

Politik und Wirtschaft – eine lebenswichtige Partnerschaft

Selbstverständlich sind Politik und Wirtschaft nicht kategorisch zu trennen. Regierungen und Konzerne haben zum Teil gemeinsame Interessen und pflegen international eine ähnliche Art von Beziehungen. Staatsoberhäupter gehen mit Top-Managern auf Reisen und werben für Investitionen und Kooperationen. Die Politik schafft in weiten Teilen die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft, und dieses Zusammenspiel ist grundsätzlich auch gut und richtig. Kritiker äußern jedoch vermehrt den Eindruck, dass sich die Machtverhältnisse umgekehrt haben und die global agierenden Konzerne, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen und meist nur an lokale Jurisdiktion gebunden sind, durch ihre wirtschaftlichen Aktivitäten die Politik steuern.

Es ist nicht zu leugnen, dass ökonomische Gegebenheiten einen erheblichen Einfluss auf das politische Klima haben. Wenn große europäische oder chinesische Konzerne in Afrika Ressourcen ausschöpfen und mit billigen Produkten lokale Märkte gefährden, sind Unruhen, Flucht und Migration nur eine logische Konsequenz. Für eine gute Zukunft muss die Wirtschaft also etwas in ihr Selbstverständnis integrieren, dass bisher lediglich eine Aufgabe der Politik zu sein schien: einen Blick fürs große Bild, ein Verantwortungsbewusstsein, das über die naheliegenden Interessen und reines Profitstreben hinausgeht und Werte wie Ethik, Gerechtigkeit, soziale Verantwortung und Nachhaltigkeit in die geschäftlichen Aktivitäten integriert.

Der Kampf um die Zukunft – ein kollektives Interesse

Viele Unternehmen haben das verstanden und übernehmen die Verantwortung, die ihrer wirtschaftlichen Macht entspricht. Immer mehr Firmen achten auf Nachhaltigkeit und soziale Verträglichkeit, fördern Entwicklungsprojekte und gehen bewusst mit Ressourcen um. Neue Technologien werden entwickelt, neue Geschäftsmodelle eingeführt. Besonders die Automobilindustrie, von der in Deutschland jeder sechste Arbeitsplatz abhängt, ist längst dabei, die großen Zukunftsthemen wie autonomes Fahren und Elektromobilität voranzubringen.

Und hier wird auch die Politik wieder aktiv: Eine zukunftsfähige Wirtschaft und ein Leben in Frieden und Wohlstand ist nun mal ein gemeinsames Interesse und erfordert ein Maximum an Kooperation. Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat bereits 2018 angekündigt, der Wirtschaft bei bedeutenden Zukunftsthemen helfen zu wollen und ein Konzept aus den zwei Säulen "stärken" und "schützen" entwickelt. Durch Förderungen und gesetzliche Rahmenbedingungen soll die deutsche Industrie ihr enormes Potenzial an Innovation und Leistung optimal entfalten können.

Herausforderung und Chance – ein Blick in die Zukunft

Die Zukunft geht uns alle an, unsere Kinder, unsere Familien, unsere Kollegen und eben uns selbst. Jeder hat eine Chance, sie mitzugestalten. Und insbesondere von denen, deren Einflussmöglichkeiten aufgrund ihrer Wirtschaftskraft besonders groß sind, wünscht man sich verantwortungsvolle Entscheidungen und Weichenstellungen, die in eine auch morgen noch lebenswerte Welt führen. Und in erfreulich vielen Fällen wird dieser Wunsch auch erfüllt.


Anmerkung: Dies ist einer der Artikel, die ich dieses Jahr – wie schon die letzten drei Jahre – für das Mandantenmagazin einer mittelgroßen Wirtschaftskanzlei verfaßt habe. Er soll nun rausgenommen werden. Man wünscht nichts "Politisches". Ich finde diesen Mangel an Courage und Haltung bedauerlich - gerade einer Kanzlei, die ihr Geld mit der Beratung von Unternehmen verdient, stände eine ethische Positionierung gut an. Nun nutze ich den Artikel eben selbst.

Donnerstag, 27. Juni 2019

Fußnote

Immer wieder stolpere ich über die Bezeichnung "Deutsch-Türken" für unsere Mitbürger türkischer Herkunft. Ich bin dringend gegen dieses Wort. "Deutsch-Türke" impliziert zuvörderst "Türke mit noch irgendwas".

Nun ist mir klar, daß manche genau das sein wollen - ich habe einen jungen Mann, dritte Generation in Deutschland, im Interview sagen hören: "Ist mir doch egal, wo ich geboren wurde und welchen Pass ich habe - ich bin Türke!" Das ist freilich problematisch und wirft die Frage auf, warum viele Familien emotional nicht in Deutschland ankommen. Aber auf ebensoviele, die hier geboren und aufgewachsen sind, trifft eben auch zu, daß sie Deutschland - völlig zu Recht! - als ihre Heimat ansehen.

Die Amerikaner machen das geschickter: Ein "Italo-American" ist eben zunächst ein "American" mit italienischem Hintergrund. Bei uns bleibt der Ausländer auch sprachlich ein Ausländer. Warum sind unsere Mitbürger türkischer Herkunft also keine Turko-Deutschen?

Sprache schafft Bewußtsein. Wo eine Formulierung ab- und ausgrenzenden Charakter hat, wird echte Integration derer, die gerne Deutsche sind und sich für diese Gesellschaft engagieren, erschwert.

Freitag, 31. Mai 2019

Ich bin dann mal rechts

Eine Polemik

Man lernt doch nie aus. Schon gar nicht über sich selbst. Nicht mal ich. Mein Leben lang dachte ich, ich wüßte in etwa, wo ich politisch stehe, mit kleinen Unschärfen freilich, denn welche allgemeine Definition politischer Sichtweisen, sofern eine solche überhaupt denkbar oder gar wünschenswert erscheint, ließe sich schon in sämtlichen Feinheiten auf eine einzelne Person anwenden?, aber im Großen und Ganzen doch gefestigt und von ein paar grundlegenden Ideen überzeugt: Freiheit, Gleichheit, Recht, Demokratie, Europa, Pluralismus. Ich hielt mich stets für: liberal. Naja, vielleicht gab es in meiner Jugend Momente, in denen ich mich eher für konservativ gehalten habe oder von anderen dafür gehalten wurde, aber das war fraglos eine Verwechselung - ich bin einfach schrecklich altmodisch, aber das ist eher ästhetischer als moralischer Natur, und schon gar nicht gilt es mir als allgemeiner Maßstab, sondern ausschließlich für mich selbst.

Liberal also - so dachte ich. Möge jeder nach seiner Façon selig werden, nach seiner Lust und Laune leben, lieben, beten, arbeiten, sein persönliches Glück suchen, was auch immer - zutiefst liberal. FDP-Mitglied in Deutschland und auch bei den Liberal Democrats in Großbritannien, herrje, da steht's ja sogar schon im Namen. Liberal. Doch ach, welch kühne Selbstüberschätzung!

Denn sooo einfach, wie ich das aus meiner Jugend kenne, ist es heute längst nicht mehr. Damals, ja, da gab's halt die Konservativen, die waren rechts, das ging da noch problemlos, sie waren ja nicht radikal oder extrem, die wählten CDU und fanden Schwarz-Rot-Gold soweit fein und fuhren schöne Autos; dann gab's die Linken, die irgendwie anti- und international waren, mehr Rot mochten, wenig Geld verdienten, häßliche französische Autos fuhren und so was Proletoides an sich hatten, genau das jedoch gerade gut an sich fanden; es gab die frisch gegründeten Grünen, die Bäume mochten und Müsli aßen, sehr schlecht gekleidet waren und gar keine Autos fuhren; und es gab so eine komische kleine Partei, die immer die Mehrheiten ermöglichte und den Außenminister stellte, etwas von Leistung erzählte und der national oder international egal war, solange man nur genug Geld verdiente. Fertig. Am 1. Mai gab's in Berlin Randale, und so ganz wenige Neonazis gab's auch irgendwo, aber die waren dumm und häßlich und hatten weder Haare noch echte Themen.

Heute jedoch ist vieles anders. Deutschland, Europa und die Welt haben sich verändert; es gab eine Wiedervereinigung und 9/11, viiiel mehr Ausländer, und nicht nur nette, sind jetzt da und liefern den Neonazis eben doch echte Themen, weil's halt nicht immer problemlos läuft mit den Kulturen. Plötzlich ist der Islam, den ich allenfalls aus dem Religionsunterricht kannte, ubiquitär und für manche obendrein Grundlage einer höchst politischen Agenda. Alles sehr viel ungemütlicher als in der kuscheligen Bonner Provinzrepublik, aber so ist es nun. Das Dumme ist nur, und mein etwas träger rheinischer Geist beginnt erst langsam, das zu verinnerlichen, daß mit all diesen Veränderungen auch unser Denken, unsere politische Landkarte und unsere Diskurskultur eine völlig neue Form angenommen haben. Was du heute politisch bist, wird nicht mehr daran bemessen, woFÜR du eintrittst, sondern woGEGEN du nicht oder zumindest nicht deutlich genug bist. Oder so.

Ein Beispiel: Früher galt als Rassist, wer an die Überlegenheit der einen und die Minderwerigkeit der anderen Rasse glaubte. Rasse war meistens relativ klar biologisch, in manchen Fällen (bei den Juden etwa) auch irgendwie schwammig religiös-ethnisch definiert. Fertig. Heute jedoch ist Rassismus jede Art "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit", ganz egal ob Schwarze, Moslems, Alte, Schwule, Behinderte oder Adlige. Gruppen halt. Darf man nicht per se doof finden, weil: Rassismus. Wenn ich also alle Kinderschänder oder alle Terroristen scheiße finde - bin ich Rassist. Na schön, das wird man noch wegargumentieren können. Aber es wird ja noch lustiger: Um Rassist zu sein, muß ich nicht mal alles an einer Gruppe ablehnen. Es genügt, wenn ich an einem sie definierenden Aspekt Kritik übe. Wie zum Beispiel dem Kopftuch als Aspekt des kopftuchaffinen Teils der islamischen Glaubensgemeinschaft: blanker Rassismus. Besser noch: Es braucht nicht mal Kritik. Schon Fragen zu stellen, kann rassistisch sein. Eine akademische Veranstaltung zum Kopftuch? Rassismus. Oder frag mal den Taxifahrer mit dem schweren, rollenden Akzent, wo er herkommt - eine Frage, die in meinem (vermutlich rechts-reaktionären) Erziehungsbild (dem also des höchstwahrscheinlich imperial denkenden, rechten weißen Mannes aus besseren Verhältnissen) eigentlich sehr freundlich gemeint wäre, als ein Ausdruck von zwischenmenschlichen Interesse, kultureller Neugier und Weltoffenheit - aber nee, ist Rassismus. Pech. Biste rechts. Und das Lustigste: wenn man sich für kulturelle Aspekte begeistert, die nicht dem eigenen Kulturraum entstammen, die man aber trotzdem für sich übernimmt - Beispiel: als blonder Deutscher Dreadlocks tragen - ist das kulturelle Aneignung und also - ratet! - Rassismus! Der Rechtsradikale mit Dreadlocks - wär' ich jetzt nicht so drauf gekommen.

Kurz, man hat in den Augen vieler Linker kaum eine reelle Chance, nicht als Rassist, als Rechter gesehen zu werden. Wer sich nicht permanent lautstark gegen Rassismus äußert, macht sich schon verdächtig, rechts zu sein, und wer der falschen Menschengruppe allzu kritische Fragen stellt oder auch nur einen diskursiven Dialog sucht, beweist es unwiderlegbar. Und das ist der Punkt, an dem ich aufgebe.

Nicht etwa den Dialog, oh nein. Auch nicht die Kritik. Schon gar nicht den liebenden Glauben an Austausch, Vielfalt, Toleranz und Freiheit. Sondern jenen Eiertanz, den ich mir in vielen Jahren Facebook-Debatten völlig unbewußt angewöhnt habe, bloß nichts zu sagen, das dem sich immer enger um jeden Diskurs schlingenden Maßstab daran, was rechts oder rassistisch ist, Anlaß geben könnte, mich in der rechten Ecke zu verorten. Gott weiß, da gehöre ich nicht hin. Wie schon mein Großvater in den 30er Jahren verachte auch ich zutiefst das Viehische, das Pöbelhafte, Laute und Gewalttätige, das Kollektive und Stumpfsinnige, das jeder Faschismus, linker oder rechter, zwingend an sich hat. In zehn kalten Wintern fiele mir nicht ein, die AfD zu wählen oder einen Pegida-Spaziergang mitzumachen (gibt's die eigentlich noch?).

Aber ich werde ebenso nicht nachlassen, einen politischen Islam zu kritisieren, der uns erzählen will, welche Rechte Frauen nicht haben, wer sich wie zu kleiden hat oder wer mit wem schlafen darf. Ich werde mich äußern, wenn ich das Gefühl habe, daß kulturelle Veränderungen eben keine Bereicherung mehr sind, sondern eine Gefahr für die Werte, die unsere Gesellschaft gut und stark machen, erstrecht, wenn solche Gefahrenherde von unserer Regierung immer noch als politische Partner gesehen werden. Ich werde immer gegen Unterdrückung und Bevormundung sein, auch wenn sie von Menschen anderen Glaubens oder anderer Hautfarbe ausgehen, denn mit dem plumpen Vorwurf, rechts zu sein, wird sich das Benennen von Problemen nicht ewig unterdrücken lassen.

Wenn eine so simple Definition von "rechts" nun also diskursbestimmend ist, dann sei's drum, bin ich eben rechts. Die Nomenklatur muß mir bei soviel Unfug, soviel Schwachsinn und vor allem: so viel, was derzeit dringend ausgesprochen, angegangen und gelöst gehört, nun wirklich egal sein. Wir leben immer noch in einem großartigen Land. Und ich möchte, daß das für jeden einzelnen, der hier in Frieden lebt, die Gesetze achtet, seine Mitmenschen respektiert und sein Glück sucht, ganz egal, welchen Glaubens, welcher Hautfarbe oder welcher sexuellen Neigung, so bleibt.

Sonntag, 28. April 2019

Auf dem Zauberberg

Eindrücke von meinem Besuch im Waldhotel Davos – gewidmet meiner Frau in liebender Dankbarkeit für diese zauberhafte Reise im November 2018, und meinem Freund Christopher, der wie kaum ein anderer verstehen wird, was ich hier erlebt habe.

Angekommen an jenem Orte, der wie kaum ein anderer greifbar, begreiflich geworden ist in einem Stück Weltliteratur – Thomas Manns "Zauberberg" nämlich, durch den ein Sanatorium unsterblich wurde, das längst keines mehr ist. Zum allerersten Male bin ich an dieser dem Geiste bereits so vertrauten Stätte, mit dem Zuge angereist, so wie es die epische Vorlage vorgibt, und sogleich legt sich über das Bild des modernen Waldhotels eine Folie historisch-literarischer Tiefsichtigkeit, die das vergangene Leben und Sterben "derer hier oben" seltsam nebulös auferstehen läßt.

Das Waldhotel ist komfortabel und erfüllt alle zeitgemäßen Standards, und zugleich pflegt man das Erbe der Vergangenheit hier sehr liebevoll. Versatzstücke des "Originals" machen es leicht, die erloschene Welt des Zauberbergs wie ein milchiges Doppelbild auf die Gegenwart des modernen Hotels zu legen. Die Decke im Speisesaal, die im Laufe der Jahrzehnte mehrfach abgehängt und zwischenzeitlich aufs Grausigste entstellt worden war, ist inklusive der markanten Lampen wieder ganz so hergerichtet wie sie damals war; nach historischem Vorbilde angefertigte Sessel und Stühle zitieren respektvoll die ursprüngliche Einrichtung, ebenso die Deckenbeleuchtung in der Bar, wo anstelle des ehemaligen Kachelofens nun ein offener Kamin eine heimelige Atmosphäre verbreitet, und natürlich erinnern ganz unbedingt die exakt nachgebauten Liegen, die auf den nun wieder von originalgetreuen Geländern begrenzten Balkonen zur "Liegekur" einladen und sogar die kamelhaarfarbenen Decken nicht vermissen lassen, an die einstige Heilanstalt.

Überall im Hause hängen Fotographien des alten Sanatoriums, und die Raumaufteilung im Erdgeschoß entspricht ganz dem, was man im Buche beschrieben findet  – bis hin zur Glastür des Speisesaals, die ebendort von Madame Chauchat so geräuschvoll zugeworfen wird. Was im Buch noch Gesellschaftsraum heißt, ist heute die Bar und erfüllt als solche denselben Zweck wie damals. Die beiden Kellner, die dort für unser Wohl sorgen, könnten  geradewegs aus der Belle Epoche in unsere Gegenwart gepurzelt sein und verstärken den Eindruck der temporalen Unschärfe, der Vielzeitlichkeit – der eine ein blutjunger Schweizer Bursche mit kurzem, leicht naturgelockten Haar und einem anachronistischen Oberlippenbart, der andere mit glatter, militärischer Frisur, einem gelangweilten, monokeltauglichen Bubengesicht und einer überraschend sonoren Stimme. Aus dem Lautsprecher tönt leise entspannter Jazz, nicht ganz zeitgenössisch, aber doch vergangenheitlich genug, um die Wirklichkeit des Jahres 2018 verblassen zu lassen.

Ein Zimmer auf dem Korridor, der früher zu den Behandlungsräumen führte, ist – und das hat mich am meisten begeistert – so authentisch wie eben möglich als Patientenzimmer hergerichtet. Ein schlichtes Bett steht darin, ein antikes Waschbecken mit Spiegel, ein weiß lackierter Kleiderschrank und ein paar medizinhistorische Gerätschaften. Am liebsten würde ich mich hier einquartieren, meine Suite mit diesem kargen, weißen Räumchen tauschen, doch für diesmal traue ich mich noch nicht, heimlich eine Nacht in dem alten Bett zu verbringen, dessen Belastbarkeit mir denn doch fragwürdig scheint.

Es ist leicht, für mich zumindest, hier in den Roman einzutauchen und im Angesicht des Neuen den alten Zustand vor dem geistigen Auge zu bewahren. Der Weg vom Zimmer, das alte Treppenhaus hinunter in den Speisesaal und an den Tisch – er ist derselbe, den auch Thomas Manns Frau Katja und, in der Welt des Geistes, Hans Castorp gegangen sind. Es ist berührend, berauschend und beeindruckend, eine milchig schwimmende Überlagerung des Realen mit einem Traum, einer fiktionalen und zugleich tatsächlichen Vergangenheit, denn Patienten und Krankheit und zahllose Geschichten gab es hier ja nun wirklich, genau hier in diesem Räumen. Und wie ich so dasitze, in einem modernen Sessel am Kamin im ehemaligen Gesellschaftsraum, meine ich sekundenweise, sie geisterhaft durch den Raum schweben zu sehen mit ihren Gehröcken und langen Kleidern, dumpf-hallend plaudern und husten zu hören, flüstern und lästern, und ihre Zeit, ihr Leben und ihr Sein schiebt sich in meine Wirklichkeit.

Ich selbst pflege und zelebriere den Anachronismus, hebe mich, wie ich es immer schon liebte und vermochte, widerstandslos von einer Zeitebene auf die andere, trage altmodische Anzüge, dreiteiligen Tweed mit Schiebermütze und Hemden mit unmodischen Krägen, und empfinde meine Sprachmanier der Hans Castorps nach. Meine Frau habe ich sogar dazu gebracht, türeknallend den Speisesaal zu betreten, und das kleine Video davon, das ich bei Instagram gepostet habe, hat uns bei der hochamüsierten Geschäftsführung des Waldhotels noch berühmter gemacht als unser auffälliger Kleidungsstil und alles in allem für eine recht privilegierte Behandlung gesorgt.

Es ist mehr als eine Reise für mich, mehr als nur ein Ortswechsel für begrenzte Zeit. Was ich jahrelang nur als Lesewerk, als sprachliche Schöpfung kannte, wird nun mit allen Sinnen erlebbar; was die Vorstellungskraft in die Geisteswelt entführte, wird hier zum echten Lebensraum, den man begehen und benutzen kann wie schon so viele andere zuvor. Ich bin glücklich über diese Eindrücke und freue mich einmal mehr meiner phantastischen Fähigkeit, auch das Fiktionale, das Vergangene und Geistige so echt und spürbar erleben und empfinden zu können. Und wenn ich, nun wieder zu Hause angelangt, die Augen schließe, bin ich sofort wieder da – auf dem Zauberberg.

Dienstag, 16. April 2019

Brände löschen

Wie unfaßbar, wie herzzerreißend. Ich konnte gestern nicht glauben, was ich da in den Nachrichten sah, und doch wurde mir mehr und mehr zur grausigen Gewißheit, daß nichts auf der Welt ein garantiertes Morgen hat, nichts als sicher gelten darf, was unseren sorglosen, naiven Gemütern so selbstverständlich und ewig gültig erscheint. Und daß wir lieben, pflegen und so bewußt wie möglich mit Leben füllen müssen, was uns wertvoll ist, solange wir es eben können.

Der Brand der Kathedrale Notre Dame und die Zerstörung kultureller Schätze, die er bewirkt hat, schmerzen mich, körperlich spürbar und bis in die Tiefe meiner Seele. Und während ich noch mit den Tränen kämpfe, blubbern aus dem Sumpf der Bosheit, zu dem besonders Facebook immer mehr verkommt, die ersten stinkenden Blasen empor und verbreiten platzend ihr Gift.

Was sind das eigentlich für verdorbene Menschen, frage ich mich, die ihre schiere, bebend unterdrückte Freude über jede Katastrophe nur sehr oberflächlich in Entsetzen und Betroffenheit gewanden - geben sie ihnen doch willkommenen Anlaß, Feindbilder zu projizieren, wirre Verschwörungs- und Umvolkungstheoreme in die Welt zu posaunen und so ihr eigenes, zerstörerisches Feuer auflodern zu lassen. Sofort und ohne jeden Anhaltspunkt wird ein islamistischer Terrorakt insinuiert oder sogar offen behauptet. Es ist abstoßend. Ein AfD-Mann postet gar, der Zusammenbruch von Notre Dame sei symbolisch für Frankreich und das Abendland; wieder sei man "Eurabia" einen Schritt näher.

Das Symbol greife ich gern auf: Notre Dame steht noch, hat den Brand überstanden und wird schöner wiedererstehen als je zuvor! So wie das Abendland, wenn wir stark bleiben und mit der Kathedrale nicht auch unseren Glauben an die Fähigkeit des Menschen, Vollkommenes zu schaffen, an unseren Schöpfergeist und unseren Sinn für Liebe und Schönheit in Rauch aufgehen lassen. Wenn wir genug Löschmittel bereithalten gegen das böse Feuer entseelter Hetzer, und wenn wir entschlossen die Werte verteidigen, die unser Leben gut, lebenswert und im besten Sinne christlich machen - Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Freiheit!

Samstag, 9. März 2019

Ein Leben für die Kunst

Mein Nachruf auf Klemens Pompetzki

Mein Onkel Klemens ist am Sonntag verstorben. Klemens Pompetzki, ein Künstler mit jeder Faser seines Herzens.

Er hat als Bildhauer mit Ton, Stahl und Bronze gearbeitet, als Maler in Öl, Tusche und Aquarellfarben. Er spielte so ziemlich alle Instrumente, und er hat bis in sein hohes Alter von 87 Jahren jeden Tag etwas geschaffen. Ruhelos war er in seinem schöpferischen Trieb, und dazu einer dieser Menschen, denen nie die Phantasie versagt, nie die Ideen ausgehen. In jedem Riß in der Wand, in jeder Wolke und jeder Baumwurzel sah er etwas Tieferes, eine Form, ein Gesicht, eine Geschichte.

Auch mein Leben hat er damit sehr beeinflußt. Als Kind durfte ich tagelang in seiner Werkstatt sitzen und aus Ton die abenteuerlichsten Dinge schaffen. Onkel Klemens hat mich das Ahnen gelehrt, das Sehen und Begreifen der Welt jenseits ihrer vordergründigen Erscheinung, das Hören jenes leisen Liedes, das in allen Dingen schläft. Er hat meinen Sinn für Form, für Schönheit und Ausdruck geschärft und mich in meinem eigenen Bedürfnis nach künstlerischer Verwirklichung gefördert.

Als er starb, war ich nicht da. Ich habe ihn nicht mal zu seinem letzten Geburtstag im Januar angerufen. Ich habe ihn vernachlässigt, seine Präsenz in meinem Leben als zu selbstverständlich vorausgesetzt. Wie ich es mit so vielen Menschen in meiner Familie mache. Und nun, da das Figurenkabinett meiner Kindheit in immer kürzeren Abständen zu schwinden beginnt, wird mir bewußter, wie wundervoll, wie einzigartig jeder einzele von ihnen ist, und was wir aneinander haben, solange wir noch leben. Ich habe Grund zur Dankbarkeit – und zur Achtsamkeit.

Gute Reise, Klemi. Und danke für alles.