Dienstag, 26. November 2019

Rassismus für Anfänger

"Extremely offensive" nannte man mich neulich. "Incredibly racist". Wer mich kennt, wird hier wohl ein wenig staunen, und so ging's auch mir. Ob ich sie noch alle habe, fragte mich ein anderer, zu dessen Position an sich eine etwas gewähltere Ausdrucksweise gehören sollte, aber offenbar endet jeder Respekt, sobald man glaubt, anderen Respektlosigkeit bescheinigen zu dürfen. Etwas so extrem Rassistisches zu sagen, das gehe gar nicht. Was war geschehen?

Ich hatte eine blöde Bemerkung gemacht. In einer Teambesprechung in kleiner Runde, in der jeder kurz darlegt, was sich gerade tut, habe ich von den anstehenden Präsentationsproben mit einem Team indischer Kollegen erzählt und mich zu dem fraglos dämlichen Scherzlein hinreißen lassen, es sei nicht immer einfach, mit einer Gruppe von Leuten zu proben, die alle klingen wie Apu aus den Simpsons. Unbedacht, wenig sensibel, kränkend vielleicht - ja. Hätte ich mir sparen können. Und selbstverständlich habe ich mich für eventuell verursachte Verletzungen sofort entschuldigt, denn es liegt mir nicht nur fern, sondern ist mir nachgerade wesensfremd, irgendwen mit Wissen und Wollen zu verletzen oder sich auch nur schlecht fühlen zu lassen. Erziehungssache, ist halt so.

Respekt ist vermutlich die fundamentalste Regel, die mir in meiner Kindheit beigebracht wurde. Respekt vor allem, was lebt, vor jedem Menschen, gleich welcher Herkunft oder welchen Standes, Respekt vor dem Küchenmädchen ebenso wie vor dem Fürsten, vor dem Hausmeister wie vor dem Professor – für jede Übertretung, jede Ungleichbehandlung, jede Überheblichkeit hätte man mir (völlig zu recht) die Ohren langgezogen. Es war und ist ein Respekt, der sich aus der profunden christlichen Überzeugung speist, daß alle Menschen gleichermaßen wertvoll, gleichermaßen berechtigt und gleichermaßen von Gott geliebt sind, ein Respekt, der tief in Demut und Dankbarkeit für eine fraglos privilegierte Herkunft, im Verantwortungsgefühl für alle, denen es weniger gutgeht und in einer universellen, grundsätzlichen Menschenliebe wurzelt. Diese Werte durchdringen mich bis heute und schlagen sich nicht nur in sozialem und politischem Engagement oder in meinen Schriften und Beiträgen zum öffentlichen Diskurs, sondern auch darin mehr als deutlich nieder, der Putzfrau die Türe aufzuhalten und mich beim Müllmann für die Entsorgung meiner Abfälle zu bedanken.

Umso perplexer war ich zunächst ob der heftigen Reaktion, die ein vielleicht nicht eben geschmackvoller, aber doch ganz offenbar auch nicht aus Haß oder rassischem Überlegenheitsgefühl erwachsener Scherz hervorrief. "It's not your decision how I feel about it", war die Antwort meiner Kollegin, als ich das zu erklären versucht habe.

All das hat mich nachdenklich gemacht. Selbstverständlich sollten wir alle achtsam sein gegen unseren Nächsten, auch und gerade in dem, was wir wie sagen. Ebenso offensichtlich scheint mir jedoch, daß die nervöse Überempfindlichkeit, die in den letzten Jahren gegen jede noch so geringfügige "politische Unkorrektheit" entstanden ist, dem gesellschaftlichen Miteinander und der Debattenkultur auch nicht guttut. Denn erstens verlocken allzu restriktive Regeln erstrecht zur Übertretung, und die Extreme werden lauter. Wo Pipi Langstrumpf oder Sternsinger auf einmal rassistisch sind, ist Empörung absehbar. Und zweitens entwerten wir unsere Begrifflichkeit und damit unser Vermögen, die Phänomene unserer Zeit sprachlich zu erfassen, zu beschreiben und damit die Voraussetzung für ihre Lösung zu schaffen, wenn wir die härtesten, die absolutesten Formulierungen inflationär gebrauchen und schon gegen die kleinsten Verfehlungen die schwersten Wortgeschütze auffahren.

Wenn mein dummer, gedankenloser Spruch "extrem rassistisch" war, wie bezeichnen wir dann das Anzünden von Asylantenheimen, das Totprügeln von Mitmenschen anderer Hautfarbe, die alltäglichen Hetzreden und Vergasungsphantasien auf Facebook? Welche Begriffe bleiben für das abgrundtief Böse, wenn schon über das Geschmacklose sprachliche Höchststrafen verhängt werden? Wie beschreiben wir Haß und Grausamkeit, wenn eine blöde Stichelei bereits das gesamte Arsenal verbaler Gegenwehr mobilisiert? Und vor allem: Wie reagiert der Durchschnittsmensch, wenn man ihn aufgrund einer gefühlten Petitesse niederbrüllt? Mit Einsicht? Oder eher mit Trotz und dem unbedingten Willen, seine Grenzen beim nächsten Mal vielleicht noch weiter und provokanter auszureizen, mehr Tabus zu brechen aus falsch verstandener Widerständigkeit? Bei den AfD-Anhängern und PEGIDA-Spazierern ist diese Spirale deutlich zu beobachten. Zum Verständnis: Meine Reaktion ist das nicht; ich gebe es nur zu Bedenken.

Nein, den Rassismus-Schuh ziehe ich mir nicht an. Dazu ist mir die Beurteilung des Sachverhaltes zu wenig kontext- und persönlichkeitsbezogen, zu platt, zu undifferenziert. Weil es sich im scheinmoralischen Glanz der politischen Korrektheit einfach gut leuchten läßt – eine relativierende Betrachtung nimmt da nur den Schwung aus der lustvollen Heftigkeit des Urteils. Wenn jemand sich gekränkt fühlt, bin ich jederzeit bereit, mich zu entschuldigen. Die Deutungshoheit über meine Motivation oder meinen Charakter jedoch werde ich nicht den Hysterikern überlassen.

Lustige Fußnote übrigens: Die empörte Kollegin, eine mit einem Deutschen verheiratete Schottin, die in Deutschland lebt und arbeitet und fließend Deutsch spricht, und der es nicht zu hochgegriffen war, mich "extremely offensive" zu nennen, hat sich – ihren Maßstäben nach – selbst einigermaßen "offensive" verhalten. Ein Gespräch, das wir dieser Tage hatten, habe ich bewußt auf Deutsch begonnen. Sie aber hat konsequent nur Englisch gesprochen, bis ich mich, nach einigen erfolglosen Versuchen, beim Deutschen zu bleiben, eben angepaßt habe. Ich darf mich nun wohl in meinem eigenen Land sprachlich diskriminiert fühlen, linguistisch unterdrückt und kulturell beleidigt. Denn Sprache ist Macht, Sprache ist Herrschaft. 'Stell dich nicht so an', mag man entgegenen, 'das ist nun mal Eure Arbeitssprache, und solche Kleinigkeiten sind wohl schwerlich Diskriminierung!' Aber wie sagte sie selbst so schön: "It's not your decision how I feel about it!"