Samstag, 6. Januar 2024

Typisch deutsch - ein Schimpfwort

Wie widerwärtig mir die Deutschen, meine eigenen Landsleute, zuweilen sind! Wie undiszipliniert, faul und einfallslos sie sich betragen; wie achtlos sie mit ihrem Alltag, ihrer Sprache, ihrem persönlichen Auftreten und ihrer Lebensgestaltung umgehen, diese nörgelnden, rechthaberischen Kleingeister ohne den geringsten Sinn für Güte, Schönheit und Großmut... Sie treiben dahin im trüben Strom konformistisch beturnschuhter Einheitlichkeit, ideologisch selbstgerecht, irgendwo haltlos im bequemen Mittelmaß dümpelnd, und halten sich in ihrer mißgünstigen Eitelkeit doch für so einzigartig, so individuell, sind so überzeugt von einer ihren Mitmenschen überlegenen Perspektive und Weltbeurteilung, daß ihnen keine Beleidigung zu niedrig, keine Herabwürdigung zu gemein und keine Zankerei zu sinnlos ist. Gerade so, wie sie es in leidenschaftlicher Fingerzeigerei auch diesem Absatz unterstellen werden. 

Diese Deutschen - das wohl einzige Volk der Welt, daß seine Nationalität als abwertenden Begriff oder gar als Schimpfwort gebraucht. Typisch englisch - darin spiegeln sich Stil, trockener Witz und stolze Tradition. Typisch französisch - das hat Klasse, einen immer leicht anzüglichen Genuß und selbstgewisse Lebensqualität. Typisch italienisch - da schmeckt man das gute Essen, hört die Musik und spürt die frohe Lust am Leben. Typisch deutsch hingegen - das beschreibt borniertes Beamtentum, kleinliche Besserwisserei und eifersüchtiges Beharren auf dem eigenen Recht, am liebsten gegenüber dem Nachbarn oder dem Menschen hinter einem in der Warteschlange. Und leider stimmt vieles davon sogar. 

Und doch vermag ich nicht, mir diese negative Konnotation des Wortes "deutsch" zueigen zu machen. Deutsch ist für mich auch und zuvörderst eine der bedeutendsten Kultursprachen der Weltgeschichte, in der sich nicht nur Goethe, Kant, Schopenhauer, Nietsche, Wagner, Marx, Freud und die Manns ausgedrückt haben, sondern auch Karl Valentin, Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg, Loriot und die Toten Hosen. Deutsch ist für mich die Romantik in ihrer besonders schwermütigen Spielart, die Sehnsucht, der Zweifel und das hoffnungsvolle Streben. Deutsch ist der Gerechtigkeitstraum vom Aschenputtel, die biedere Gutmütigkeit der Sieben Zwerge und die einsame Verlorenheit des Dornröschen. Deutsch ist ebenso die protestantische Glaubenstiefe eines Johann Sebastian Bach, der Widerstandsgeist eines Martin Luther oder die Unbeugsamkeit eines Dietrich Bonhoeffer wie die unerschütterliche Haltung der Scholls oder Graf Galens. Deutsch ist die Geheimnistiefe des Rheins, die Geisterhaftigkeit der nebligen Nordseeküste und die Märchenwelt der bayerischen Berge. Und deutsch sind auch die Verwirrungen, die hitzigen Übertreibungen und die daraus erwachsenen Untaten unserer Nation. 

Und eben drum möchte ich das Deutsche nicht als etwas Negatives sehen, sondern als ein besonders vielschichtiges Phänomen, in dem eine eigenartige Begabung zum Außerordentlichen in allen Richtungen liegt, zu wunderbarer Schönheit und ekelerregender Widerlichkeit, zu romantischer Güte und Seelentiefe wie zu faschistischer Brutalität und Pöbelhaftigkeit. Was wir heute in der Gesellschaft sehen, scheint mehr in die letztere Richtung zu deuten, und dieser Eindruck mag meinen verzweifelten Einstiegssatz erklären, der doch im wesentlichen ein Ausdruck enttäuschter Liebe ist zu diesem Land und seinen Menschen. 

Wir können aber auch anders, und es liegt an jedem einzelnen von uns und an uns als Gemeinschaft all derer, die friedvoll in diesem Lande leben möchten, es anders zu machen. Mit Güte und Großmut, mit Einfallsreichtum und einer wohldosierten Selbstliebe, die doch recht eigentlich erst zur Liebe an sich und zu allen befähigt.