Sonntag, 5. Juni 2022

Der Antigeist

Zu Pfingsten feiert man bekanntlich die Ankunft des Heiligen Geistes, eines Geistes, der die Jünger nicht nur vollends mit der Lehre Jesu durchdrang, sondern ihnen zudem eingab, in fremden Sprachen zu sprechen, sodaß alle Völker sie in ihrer jeweiligen Muttersprache verstehen konnten. Wohlgemerkt – sie sprachen nicht plötzlich alle dieselbe Sprache! Von Vereinheitlichung ist hier nicht die Rede, sondern davon, in der wunderbaren Vielfalt das Gemeinsame zu finden. 

Wie anders unsere Zeit! Zwar wird Vielfalt auch heute allerorts beschworen, man schwenkt Regenbogenfahnen und feiert jede Abweichung von dem, was früher mal als (Achtung Triggerwarnung!) „Norm“ galt. Zugleich aber dürfen Unterschiede zwischen Menschen auf keinen Fall thematisiert werden! Den Taxifahrer mit dem rollenden Akzent – sei es auch aus philanthropischer Neugier und persönlicher Anteilnahme an den Lebensgeschichten anderer – nach seiner Herkunft zu fragen, ist ebenso rassistisch wie die Erweiterung des persönlichen Horizonts durch die Adaption fremdländischer Idiosynkrasien, die als kulturelle Aneignung geschmäht wird, ohne freilich den logischen Bruch aufzulösen, der einerseits Vielfalt und kulturelle Bereicherung und Beeinflussung predigt, andererseits aber die bloße Erwähnung von Eigenarten als xenophoben Übergriff anprangert. 

Doch könnte man über diesen hysterischen Zivilisationsschaden noch hinwegsehen, würde die Grundidee des Pfingstfestes heutzutage nicht auf noch viel gefährlichere und brutalere Art betrogen. Denn wo damals* die Vielfalt die Brücke zum Gemeinsamen schlug, dient sie heute der Abgrenzung, der Einteilung von Menschen in ein gutes und erstrebenswertes „Wir“ und ein bedrohliches, zu bekämpfendes „Die“. Nationalismen, Chauvinismen und religiöser Fanatismus sind weltweit auf dem Vormarsch; Unterschiede, die doch tatsächlich bereichernd und verbindend sein könnten, werden zur Ab- und Ausgrenzung mißbraucht, und der totalitäre Wahn erhitzt Menschen in immer mehr Ländern bis zu einem Grade, in dem sie für die psychotische Überzeugung, ihre Identität, ja ihre Existenz sei bedroht, zu töten bereit sind. 

Und all das geschieht keineswegs nur am abgehängten Bodensatz von Gesellschaften, in urbanen Ghettos und bildungsfernen Randgruppen, die ihre individuelle Perspektivlosigkeit durch kollektiven Ersatzsinn substituieren, sondern auch – und das ist besonders besorgniserregend – dort, wo politische Macht sich bündelt und über das Schicksal von Menschen, Ländern, Systemen und letztlich der Welt bestimmt wird, in Palästen und Regierungssitzen, in denen Bedrohungen beschworen und Kriege ange-Z-elt werden. Die Liebe zur Demokratie schrumpft, auch hier bei uns, und der Freiheitsbegriff wird von einer Freiheit von Bevormundung in eine Freiheit von Verantwortung, ja Freiheit von Vielfalt umgedeutet, die ein autoritäres System für viele so attraktiv macht. 

Es ist der Antigeist zu Pfingsten, der sich mit solch feindseligem Gifte in die Köpfe fanatisierter Menschen brennt, und ob man das heutige Christenfest nun für religiöse Glaubenswahrheit oder für einen kultischen Mythos hält, bleibt seine Grundidee doch valide: Die Vielfalt als Geschenk anzunehmen und in ihr die Einheit zu finden, die alle Menschen in Liebe und Respekt verbindet. Zumindest daran möchte ich glauben, und heute vielleicht noch ein bißchen inniger als sonst.


*Wenn ich "damals" sage, lasse ich die historische Akkuratesse außer Betracht; für den Grundgedanken sowohl des Pfingstfestes als auch der Lehre Jesu ist geschichtliche Tatsächlichkeit oder religiöse Wahrheit irrelevant.

Donnerstag, 17. März 2022

Willst du das?

Da stehst du nun in deinem Tarnanzug, das Gewehr in der Hand, den Helm auf dem Kopf, ein weißes Z auf dem zugigen Laster, der dich und die anderen hergekarrt hat wie Vieh. Tief in einem Land, das nicht deins ist, stehst du da und tötest Menschen, die dir nichts getan haben. Weil man es dir befohlen hat. Weil man dir erzählt hat, diese Menschen seien deine Feinde. Weil der neben dir genau das Gleiche tut. Vielleicht habt ihr ja Angst, es nicht zu tun. Aber willst du es? 

Willst du das wirklich sein? Ein Mörder? Ein Dieb? Ein seelenloser Henker, ein gefügiges Werkzeug eines fernen, reichen Tyrannen, dem dein Leben egal ist? Du hast doch mal so viel gedacht. So viel gewollt. Du hast von Liebe geträumt und vom Glück. Willst du jetzt wirklich, daß deine Taten als die grausamsten, meistverachteten Verbrechen dieses Jahrhunderts in die Geschichte eingehen? Willst du nichts erreicht, nichts bewirkt haben in deinem wertvollen Leben als Leid, Qual, Tod, Zerstörung und Haß? Willst du das wirklich? 

Willst du, daß deine liebe Heimat auf Jahrzehnte mit Mißtrauen betrachtet und ihr Name mit Verachtung ausgesprochen wird - wegen nur eines Menschen mit Wahnsinn im Kopf und Haß im Herzen? Willst du das wirklich? Oder möchtest du nicht lieber in die Welt tragen, was dein Land schön und großartig macht, seine Kultur, seine Seele, seine Schönheit, seine Liebe, die Güte seiner Menschen und den Beitrag, den es zum wundervollen Bild der Welt leisten kann? Möchtest du nicht lieber Menschen umarmen als sie zu töten? Möchtest du nicht lieber mit ihnen lachen, spielen und Wodka trinken, als sie zu Tode zu ängstigen, nur damit du deine eigene Angst nicht mehr so spürst? 

Du schießt. Ein Feind? Ein Kind? Eine Familie? Nichts mehr regt sich. Leben, Liebe, Hoffnung endet. 

Soldat, bitte frage dich: 
Was willst du wirklich?

Donnerstag, 24. Februar 2022

Lieber Herr Präsident...

...was treibt Sie um? Warum lodern Hass und Misstrauen so stark in Ihrer Seele? Warum leuchtet die Schönheit und Güte Ihres wunderbaren Landes so schwach aus Ihren persönlichen Taten hervor? 

Sie haben Macht, sehr viel Macht. Sie führen das größte Land der Welt und repräsentieren eine der wichtigsten Kulturnationen des Planeten. Sie könnten die Welt zu einem besseren Ort machen. Warum, möchte ich wissen, führen Sie Ihr Russland nicht zu einer Größe, die von allen geliebt und bewundert werden kann, die die Menschen inspiriert und beglückt? Warum schaffen Sie nicht Schönheit und Wohlstand, Wissenschaft und Fortschritt, Kultur und Liebe? Warum machen Sie Russland nicht zu einer Nation, deren Name mit Zuneigung und Dankbarkeit ausgesprochen wird, sondern setzen stattdessen auf Gewalt, Härte, Brutalität und Lügen? 

Herr Präsident, wir sollten weiter sein. Die Welt ist klein geworden, und ihre Probleme sind umso größer. Als Weltgemeinschaft haben wir Aufgaben zu bewältigen, die dringlicher sind als jedes nationale oder wirtschaftliche Interesse. Krieg und Alleingänge gehören nicht mehr in unsere Zeit; wir sollten es besser wissen. Noch nie, noch nie hat ein Krieg die Welt besser gemacht, die Menschen zufriedener und das leben schöner. Bitte lassen Sie Ihr Russland das sein, was es immer war - ein wertvolles und alles bereicherndes Mitglied der Weltfamilie! 

Gott erleuchte Ihre Seele.