Dienstag, 18. August 2020

Mein Platz

Was mich am meisten nervt an der Pandemie, sind nicht die Masken, auch wenn sie lästig sind. Es sind auch nicht die Covidioten, auch wenn ich es grotesk finde, wenn sie mit Schwarz-Rot-Gold herumlaufen und damit eine Gemeinschaft beschwören, auf die Rücksicht zu nehmen sie sich jedoch eines egozentrisch definierten Freiheitsverständnisses wegen weigern.

Nein, es sind diese Schilder, die heutzutage an vielen Gastronomien zu sehen sind: "Wir zeigen Ihnen Ihren Platz!" Nee, möchte ich sagen, das tut Ihr nicht. Denn meinen Platz kenne ich. Geographisch, familiär, sozial und beruflich. Da brauche ich keinerlei Nachhilfe von einem Oberkellner. Ihr dürft mich jedoch zu meinem Tisch geleiten, das wäre nett, denn natürlich müssen wir alle zusammenhalten und die Regeln beachten, um dieses dämliche Virus in den Griff zu kriegen und uns gegenseitig zu schützen. Weil so nämlich Gemeinschaft geht. Schwarz-Rot-Gold und so.

Die ordnende Zuweisung eines Tisches, die kann man anders kommunizieren. Nett und respektvoll. Worauf ich jedoch ganz empfindlich reagiere, ist, wenn mir jemand meinen Platz zeigen will. Daran haben sich wahrlich schon andere die Zähne ausgebissen.

Dienstag, 4. August 2020

Ein Nachruf

Ein Nachruf - ja! Nachrufen möchte ich Dir: Geh nicht weg! Sei noch da! Wir haben so viel versäumt. So viele Gespräche, die wir nicht geführt, so viele Erlebnisse, die wir nicht geteilt haben. Weil es so lange her ist, daß wir uns gesehen haben. So viele Jahre, seit Du den Kontakt abgebrochen hast. Und ich habe es verstanden. 

Du warst so schrecklich verliebt in mich. Es war offensichtlich. Und einmal hast Du es mir gesagt. Damals auf dem Balkon, irgendwann nachts, champagnerselig, während im Saal der Hausball rauschte. Ich fand das unglaublich süß. Aber da konnte ich nichts machen. Ich liebe halt anders als Du. Und Du wußtest das ja auch. 

Herrje, der Tag, an dem Du mich feierlich und geheimnisvoll zu Dir gebeten hast, in Dein kleines Dachzimmerchen, das so voll war mit Büchern und CDs. Herumgedruckst hast Du, um die richtigen Worte ringend, wie es doch sonst nicht Deine hocheloquente Art war, und auf den verschlungensten Wegen hast Du Dich schließlich zu Deinem großen Bekenntnis vorgekämpft, dem Geheimnis Deiner Homosexualität, das ich doch längst kannte. Ein wenig habe ich wohl den dramatischen Bogen ruiniert als ich auf dem Höhepunkt Deiner Offenbarung nur sagte: Ja und? Das weiß ich doch. 

Das hat Dich ein wenig erstaunt, nicht wahr? Für einen Moment warst Du aus dem Konzept gebracht. Und dann erzähltest Du mir, merklich erleichtert, wieviel Angst Du vor diesem Gespräch, diesem Geständnis gehabt hattest. Schließlich hatte nicht jeder Deine Art zu lieben mit so viel Wohlwollen aufgenommen; Deine Mutter, so erzähltest Du, habe sich gar "vor Kummer in den Dahlien gewälzt" - eine Formulierung, die ich heute noch verwende. Und immer muß ich dabei an Dich denken und lächeln. 

Himmel, Du warst also schwul. Es gehörte für mich zu Dir wie Deine Liebe zu Wagner oder Hofmannsthal, wie Dein Siegelring und Dein vornehmer nordfriesischer Akzent. Und es schien mir durchaus liebenswert, wenngleich ich dieser Neigung nichts anzubieten hatte. Was mir leid tat für Dich, aber eben nicht zu ändern war. 

Weißt Du, ich kenne unerfüllte Liebe. Ich habe sie selbst lange erdulden müssen. Und es tut mir leid, Dir solchen Herzschmerz verursacht zu haben. So viel davon, daß Du es irgendwann vorzogst, den Kontakt ganz abzubrechen. Ich verstehe das. Aber Du fehltest mir von da an. Alles an Dir. Alles, was uns verband. Unser serpentinenhafter, holpriger Lebensweg, der uns beide von der Juristerei zur Literatur und dann irgendwann in ganz neue Bereiche geführt hatte, und auch unsere seelische Verwurzelung in einer anderen Zeit... 

Schön war's damals in Heidelberg. Eine Zeitlang bist Du bei uns ja fast zu Hause gewesen; wir haben stundenlang über Literatur gesprochen, Opern gehört oder Viscontis "Ludwig" angeschaut. Du warst so unglaublich klug, so belesen und bereichernd... und dabei so warmherzig, so empfindsam und seelenvoll. Ich hatte Dich gern als Freund, weil ich mich endlich verstanden und einfach ein bißchen weniger allein fühlte in meiner Sehnsucht nach dem Schönen und Guten in dieser immer häßlicher werdenden Welt. 

Heute ist Dein Geburtstag. Seit Deiner, ich nenne es mal "Trennung" von mir denke ich jedes Jahr an diesem Tag an Dich. Und jedes Jahr habe ich mir vorgenommen, Dich anzurufen. Zu hören, ob es Dir gutgeht. Und zu schauen, ob sich diese besondere, bereichernde Freundschaft nicht doch erneuern ließe. Und jedes Jahr habe ich es nicht getan. Aus Respekt vor Deiner Entscheidung. Aus Angst, alte Wunden aufzureißen. Und vielleicht ein wenig aus dem Glauben heraus, wir hätten ja noch ein ganzes Leben lang Zeit. Wie töricht.

Auch heute habe ich an Dich gedacht. Und heute, ja, heute war ich soweit, heute habe ich beschlossen, es allen Bedenken zum Trotze zu wagen und Dich anzurufen! Was soll's denn, dachte ich - es sind nun fast 20 Jahre! Und also suche ich in freudiger Erregung, im herzpochenden Wagemut des Neubeginns nach Deinen Kontaktdetails. Und finde Deinen Nachruf. 

Du bist gestorben. Sehr schnell. Sehr unerwartet. Und viel zu früh. Himmel, Karl, Du bist ein Jahr jünger als ich! Wie kannst Du seit vier Jahren tot sein?! 

Ich habe Dich verpaßt. Wir uns. Die letzten beiden Jahre Deines Lebens haben wir sogar in derselben Stadt gewohnt. Wie unser alter Lehrer übeigens, wußtest Du das? Wie einfach hätte es sein können! 

Ich bin so unendlich traurig. Nun werden wir uns niemals wiedersehen. Keine Gespräche mehr über Richard Strauß und Hugo von Hofmannsthal. Keine kurze, süße gemeinsame Flucht vor der häßlichen Gegenwart in jenes Reich, das nicht von dieser Welt ist und uns doch so innig verbunden hat... 

Danke Dir. Danke für Dich, für die Impulse und Perspektiven, für Dein Vorbild und Deine Liebe. Ich werde Dich niemals vergessen.