Sie bewegt sich auf mich zu, klein, gebückt, in langsamen, schlurfenden Schritten, als habe sie Schmerzen in den Beinen. Einen uralten, leichten Anorak trägt sie, dazu die billigste Jeans, die man sich vorstellen kann, und ebensolche Turnschuhe. Das einzige Dekoelement ist ein schwarz-rot gemustertes Tuch, das sie, einen langen Zipfel auf der Brust, den anderen auf dem Rücken, um ihren Hals trägt. Sie mag um die 70 sein; ihr Gesicht ist rund und zeigt den Ausdruck jener duldsamen Gutmütigkeit, die langes Leiden hervorbringt. Von ihrem Kopf hängt bis auf Kinnlänge strähniges, dünnens Haar, das aussieht, als sei es eine Weile nicht gewaschen worden, aschgrau, genau wie ihre ungepflegte Haut.
Ich sehe sie ein, zwei Leute ansprechen, die den Kopf schütteln, und mir ist klar, was jetzt kommt. "Können Sie mir vielleicht mit etwas Kleingeld helfen?" sagt sie mit einem verlegenen Lächeln, das schlechte Zähne zwischen ihren spröden Lippen preisgibt. "Ich habe keinerlei Kleingeld dabei!" lüge ich reflexhaft, denn allzu viel hört man von organisierten Bettlerbanden und kriminellen Kartellen, und ich meine, in ihrer leidenden Gutmütigkeit nun eine verzweifelte Note wahrzunehmen. Sie geht weiter, und im selben Moment überrollt mich eine Welle tiefer Scham.
Da sitze ich überhebliches Arschloch in meinem Maßanzug und mit einer Rolex am Handgelenk, die vermutlich mehr gekostet hat, als diese Frau im Jahr an Rente bekommt, warte mit meinem Erster-Klasse-Ticket auf den Zug, der mich in die teuerste Stadt Deutschlands fährt, in der ich ein mehr als komfortables Leben führe - und lüge aus purem Vorbehalt dieser ganz gewiß nicht kriminell organisierten deutschen Rentnerin vor, die vier Euro fünfzig Wechselgeld vom Taxi gerade eben nicht in der Westentasche zu haben. Ich schaue ihren weiterhin erfolglosen Versuchen zu, den Menschen fünfzig Cent abzubetteln, und ekele mich vor mir selbst. Meine Finger gleiten in die Westentasche, zu den Münzen. "Schauen Sie, ich habe doch noch was gefunden!" - ja, das könnte ich sagen. Aber für die Schäbigkeit meiner ersten Reaktion ist das keine ausreichende Wiedergutmachung.
Also nehme ich einen Zehn-Euro-Schein aus meiner Brieftasche - Himmel, selbst das scheint mir kleinlich; zehn Euro, oder auch zwanzig, gebe ich für einen Drink aus, ohne auch nur drüber nachzudenken - und gehe der Frau hinterher. Gerade als ich sie erreiche dreht sie sich um und steht direkt vor mir. "Es muß ja nicht immer Kleingeld sein!" sage ich und reiche ihr den Geldschein. Etwas ungläubig starrt sie auf meine Hand, nimmt dann den Schein, und ihr Gesicht erstrahlt. Lächelnd sieht sie zu mir herauf, mit ihren schlechten Zähnen und den porösen Lippen, nimmt mich fest in den Arm und sagt mit bebender Stimme: "Das ist so nett von Ihnen! Jetzt kann ich nach Hause fahren!" Und ich erwidere die Umarmung, drücke sie an mich und lächele zurück. "Danke vielmals", sagt sie dann, meine Hand in ihren haltend, "ich wünsche Ihnen, daß Sie das niemals tun müssen! Ich habe immer gearbeitet, und jetzt bekomme ich 700 Euro Rente im Monat, sammele Flaschen und muß Leute um Kleingeld bitten!" Und wir unterhalten uns ein wenig. Es sei so schwer, erzählt sie, und ich solle bloß nicht krank werden und in Frührente gehen müssen - dann sei ich verloren! Niemals solle mir das passieren, das wünsche sie mir. Und eine gute Heimfahrt. Und sie küßt meine Hand, die sie immer noch festhält, und mir steigt ein Kloß in den Hals. Dann trennen wir uns.
"Making an impact that matters" lautet das Motto des Beratungsunternehmens, in dessen glanzvoller Zentrale ich die Arbeitswoche verbracht habe. Jetzt, auf dem Bahnsteig, in der dankbaren Umarmung dieser elenden kleinen Frau habe ich verstanden, was das wirklich heißt.