Eine Polemik
Man lernt doch nie aus. Schon gar nicht über sich selbst. Nicht mal ich. Mein Leben lang dachte ich, ich wüßte in etwa, wo ich politisch stehe, mit kleinen Unschärfen freilich, denn welche allgemeine Definition politischer Sichtweisen, sofern eine solche überhaupt denkbar oder gar wünschenswert erscheint, ließe sich schon in sämtlichen Feinheiten auf eine einzelne Person anwenden?, aber im Großen und Ganzen doch gefestigt und von ein paar grundlegenden Ideen überzeugt: Freiheit, Gleichheit, Recht, Demokratie, Europa, Pluralismus. Ich hielt mich stets für: liberal. Naja, vielleicht gab es in meiner Jugend Momente, in denen ich mich eher für konservativ gehalten habe oder von anderen dafür gehalten wurde, aber das war fraglos eine Verwechselung - ich bin einfach schrecklich altmodisch, aber das ist eher ästhetischer als moralischer Natur, und schon gar nicht gilt es mir als allgemeiner Maßstab, sondern ausschließlich für mich selbst.
Liberal also - so dachte ich. Möge jeder nach seiner Façon selig werden, nach seiner Lust und Laune leben, lieben, beten, arbeiten, sein persönliches Glück suchen, was auch immer - zutiefst liberal. FDP-Mitglied in Deutschland und auch bei den Liberal Democrats in Großbritannien, herrje, da steht's ja sogar schon im Namen. Liberal. Doch ach, welch kühne Selbstüberschätzung!
Denn sooo einfach, wie ich das aus meiner Jugend kenne, ist es heute längst nicht mehr. Damals, ja, da gab's halt die Konservativen, die waren rechts, das ging da noch problemlos, sie waren ja nicht radikal oder extrem, die wählten CDU und fanden Schwarz-Rot-Gold soweit fein und fuhren schöne Autos; dann gab's die Linken, die irgendwie anti- und international waren, mehr Rot mochten, wenig Geld verdienten, häßliche französische Autos fuhren und so was Proletoides an sich hatten, genau das jedoch gerade gut an sich fanden; es gab die frisch gegründeten Grünen, die Bäume mochten und Müsli aßen, sehr schlecht gekleidet waren und gar keine Autos fuhren; und es gab so eine komische kleine Partei, die immer die Mehrheiten ermöglichte und den Außenminister stellte, etwas von Leistung erzählte und der national oder international egal war, solange man nur genug Geld verdiente. Fertig. Am 1. Mai gab's in Berlin Randale, und so ganz wenige Neonazis gab's auch irgendwo, aber die waren dumm und häßlich und hatten weder Haare noch echte Themen.
Heute jedoch ist vieles anders. Deutschland, Europa und die Welt haben sich verändert; es gab eine Wiedervereinigung und 9/11, viiiel mehr Ausländer, und nicht nur nette, sind jetzt da und liefern den Neonazis eben doch echte Themen, weil's halt nicht immer problemlos läuft mit den Kulturen. Plötzlich ist der Islam, den ich allenfalls aus dem Religionsunterricht kannte, ubiquitär und für manche obendrein Grundlage einer höchst politischen Agenda. Alles sehr viel ungemütlicher als in der kuscheligen Bonner Provinzrepublik, aber so ist es nun. Das Dumme ist nur, und mein etwas träger rheinischer Geist beginnt erst langsam, das zu verinnerlichen, daß mit all diesen Veränderungen auch unser Denken, unsere politische Landkarte und unsere Diskurskultur eine völlig neue Form angenommen haben. Was du heute politisch bist, wird nicht mehr daran bemessen, woFÜR du eintrittst, sondern woGEGEN du nicht oder zumindest nicht deutlich genug bist. Oder so.
Ein Beispiel: Früher galt als Rassist, wer an die Überlegenheit der einen und die Minderwerigkeit der anderen Rasse glaubte. Rasse war meistens relativ klar biologisch, in manchen Fällen (bei den Juden etwa) auch irgendwie schwammig religiös-ethnisch definiert. Fertig. Heute jedoch ist Rassismus jede Art "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit", ganz egal ob Schwarze, Moslems, Alte, Schwule, Behinderte oder Adlige. Gruppen halt. Darf man nicht per se doof finden, weil: Rassismus. Wenn ich also alle Kinderschänder oder alle Terroristen scheiße finde - bin ich Rassist. Na schön, das wird man noch wegargumentieren können. Aber es wird ja noch lustiger: Um Rassist zu sein, muß ich nicht mal alles an einer Gruppe ablehnen. Es genügt, wenn ich an einem sie definierenden Aspekt Kritik übe. Wie zum Beispiel dem Kopftuch als Aspekt des kopftuchaffinen Teils der islamischen Glaubensgemeinschaft: blanker Rassismus. Besser noch: Es braucht nicht mal Kritik. Schon Fragen zu stellen, kann rassistisch sein. Eine akademische Veranstaltung zum Kopftuch? Rassismus. Oder frag mal den Taxifahrer mit dem schweren, rollenden Akzent, wo er herkommt - eine Frage, die in meinem (vermutlich rechts-reaktionären) Erziehungsbild (dem also des höchstwahrscheinlich imperial denkenden, rechten weißen Mannes aus besseren Verhältnissen) eigentlich sehr freundlich gemeint wäre, als ein Ausdruck von zwischenmenschlichen Interesse, kultureller Neugier und Weltoffenheit - aber nee, ist Rassismus. Pech. Biste rechts. Und das Lustigste: wenn man sich für kulturelle Aspekte begeistert, die nicht dem eigenen Kulturraum entstammen, die man aber trotzdem für sich übernimmt - Beispiel: als blonder Deutscher Dreadlocks tragen - ist das kulturelle Aneignung und also - ratet! - Rassismus! Der Rechtsradikale mit Dreadlocks - wär' ich jetzt nicht so drauf gekommen.
Kurz, man hat in den Augen vieler Linker kaum eine reelle Chance, nicht als Rassist, als Rechter gesehen zu werden. Wer sich nicht permanent lautstark gegen Rassismus äußert, macht sich schon verdächtig, rechts zu sein, und wer der falschen Menschengruppe allzu kritische Fragen stellt oder auch nur einen diskursiven Dialog sucht, beweist es unwiderlegbar. Und das ist der Punkt, an dem ich aufgebe.
Nicht etwa den Dialog, oh nein. Auch nicht die Kritik. Schon gar nicht den liebenden Glauben an Austausch, Vielfalt, Toleranz und Freiheit. Sondern jenen Eiertanz, den ich mir in vielen Jahren Facebook-Debatten völlig unbewußt angewöhnt habe, bloß nichts zu sagen, das dem sich immer enger um jeden Diskurs schlingenden Maßstab daran, was rechts oder rassistisch ist, Anlaß geben könnte, mich in der rechten Ecke zu verorten. Gott weiß, da gehöre ich nicht hin. Wie schon mein Großvater in den 30er Jahren verachte auch ich zutiefst das Viehische, das Pöbelhafte, Laute und Gewalttätige, das Kollektive und Stumpfsinnige, das jeder Faschismus, linker oder rechter, zwingend an sich hat. In zehn kalten Wintern fiele mir nicht ein, die AfD zu wählen oder einen Pegida-Spaziergang mitzumachen (gibt's die eigentlich noch?).
Aber ich werde ebenso nicht nachlassen, einen politischen Islam zu kritisieren, der uns erzählen will, welche Rechte Frauen nicht haben, wer sich wie zu kleiden hat oder wer mit wem schlafen darf. Ich werde mich äußern, wenn ich das Gefühl habe, daß kulturelle Veränderungen eben keine Bereicherung mehr sind, sondern eine Gefahr für die Werte, die unsere Gesellschaft gut und stark machen, erstrecht, wenn solche Gefahrenherde von unserer Regierung immer noch als politische Partner gesehen werden. Ich werde immer gegen Unterdrückung und Bevormundung sein, auch wenn sie von Menschen anderen Glaubens oder anderer Hautfarbe ausgehen, denn mit dem plumpen Vorwurf, rechts zu sein, wird sich das Benennen von Problemen nicht ewig unterdrücken lassen.
Wenn eine so simple Definition von "rechts" nun also diskursbestimmend ist, dann sei's drum, bin ich eben rechts. Die Nomenklatur muß mir bei soviel Unfug, soviel Schwachsinn und vor allem: so viel, was derzeit dringend ausgesprochen, angegangen und gelöst gehört, nun wirklich egal sein. Wir leben immer noch in einem großartigen Land. Und ich möchte, daß das für jeden einzelnen, der hier in Frieden lebt, die Gesetze achtet, seine Mitmenschen respektiert und sein Glück sucht, ganz egal, welchen Glaubens, welcher Hautfarbe oder welcher sexuellen Neigung, so bleibt.