Mittwoch, 28. September 2016

Was ist so schwer am Deutschsein?

Ein Facebook-Posting

Ein beliebtes Argument dafür, gegen irgendjemanden zu sein, ist immer wieder die angebliche Bedrohung der eigenen Identität. Was man ist und zu allen Zeiten war, wird offenbar als zu schwach empfunden, sich auch neuen Menschen und Impulsen gegenüber zu bewähren. Aber woher kommt dieses Schwächegefühl? Oder anders gefragt: Was ist so schwer am Deutschsein?

Ich persönlich finde Deutschsein super. Zugegeben – ich hatte es einerseits auch leicht, es zu lernen. In meiner Schule gab es vielleicht fünf „Ausländer“, und die waren hier geboren und sprachen ohne Akzent. „Überfremdung“ war (zu Recht) nur ein dummes Naziwort, aber kein aktuelles Thema; über Identitätsverlust hat man sich damals – in den 80ern – allenfalls insoweit Gedanken gemacht als alles „Deutsche“ verpönt und jedes Nationalgefühl politisch verdächtig war. Was das Deutschsein eben andererseits auch wieder schwer gemacht hat. 

Heute sind wir weiter. Deutschland ist seit 25 Jahren wiedervereinigt – ein lässiges, angesehenes Land, weltoffen, pluralistisch, frei und mit einem (spätestens seit dem Sommermärchen) sehr entspannten Verhältnis zu sich selbst und zur eigenen Flagge. Dachte ich zumindest.

Denn mit der Entspanntheit scheint es vorbei zu sein. Wer heute Schwarz-Rot-Gold schwenkt, tut es meist mit bitterem Gesichtsausdruck und bösen Parolen auf den Lippen. Finde ich ätzend – ausgerechnet die Unentspannten, die Engstirnigen und Frustrierten beginnen, das Deutschsein für sich zu vereinnahmen und es nach ihren menschenverachtenden Maßstäben zu definieren. Und das gefällt mir gar nicht, einfach, weil ich nicht möchte, daß das Deutschsein zum dürren Strohhalm all derer verkommt, die sich schwach und unsicher fühlen und mit brutaler Haßrhetorik ihre Versagensängste überschreien. Jene Leute suchen das Deutschsein in einer allgemein verbindlichen Definition, einer kollektiven Wurzel all dessen, was jeder Einzelne daraus macht. Das aber ist unrealistisch, misanthropisch und gefährlich. 

Das Deutschsein, das ich mir wünsche, funktioniert genau umgekehrt: nämlich als individuell gelebte und selbst bestimmte Zutat zum Gesamtbild der reifen und in sich gefestigten Persönlichkeit. Kurz: Deutsch ist, wer deutsch sein will, egal, welche Hautfarbe er hat, an welchem Gott er glaubt oder welchen Menschen er liebt. Deutsch ist heute eine unendliche Vielfalt von Merkmalen und Eigenarten, aus der sich jeder nach Neigung und Belieben aussuchen möge, was er seiner individuellen deutschen Identität hinzufügen oder was er zum Pool vielleicht sogar Neues beitragen möchte. Vorzuschreiben hat das niemand.

Wer sich aber von Neuem, Fremden per se bedroht fühlt, statt sich zu freuen, aus dem reichen Erbe des Deutschseins das weitergeben und vermitteln zu dürfen, was ihm besonders wertvoll und wichtig erscheint, kommt mir schwach und feige vor. Wer in unserer Zeit nicht auf entspannte, weltoffene und auch selbstironische Weise deutsch sein kann, sollte es lieber lassen. Bei Pegida mitzumarschieren ist jedenfalls etwa so deutsch, wie die Kreuzzüge christlich waren.

Mein Deutschsein geht anders und steht auch in Zeiten der Globalisierung und der Migration keine Sekunde in Frage – entspannt, gelassen und ein bißchen selbstironisch. Weil ich mir seiner sicher bin. Weil ich es super finde. Weil’s mir niemand wegnimmt und weil es wirklich ganz einfach ist.

Freitag, 16. September 2016

Freiheit. Langweilig und anstrengend.

Eine Liebeserklärung

Ich sehe mich um in meinem Deutschland 2016. Und ich sehe Menschen in Freiheit. Sie sitzen in Straßencafés, schlendern durch die Fußgängerzonen, kaufen ein, treffen Freunde, plaudern, lachen. Sie gehen ihren Berufen nach, pflegen ihre Hobbies, erziehen ihre Kinder. Sie besuchen Museen, gehen ins Kino, tanzen in Clubs und lesen Zeitungen und Bücher. Es sind Menschen, die nicht hilflos der Willkür von Polizei oder Justiz ausgesetzt sind, Menschen, die gehen können, wohin sie möchten, die ihre Meinung sagen und ihren Lebenspartner auswählen dürfen, die sich einzig und allein nach ihrem Geschmack kleiden und völlig unbehelligt ihr Leben leben, ohne Angst vor Verfolgung und Denunziation. Ich sehe Menschen in Freiheit in meinem Deutschland 2016.

Freiheit. Die große Sehnsucht aller Unfreien. Die unbändige Kraft, die ganze Völker aufstehen läßt gegen Tyrannei und Unterdrückung, Staaten revolutioniert und Menschen zu Höchstleistungen antreibt. Freiheit, dieser glühende Wunsch, für dessen Erfüllung so viele Millionen Menschen Leib und Leben riskieren. Freiheit, der universelle Traum. Ich sehe mich um in meinem Deutschland 2016. Auf der Residenz weht die schwarz-rot-goldene Flagge, für mich ein wunderbares Symbol der Freiheit, beruhigend, vergewissernd... und ich denke: Wir sind frei. Ein freies Land in Wohlstand und Frieden. Welch immenses, unfaßbares Privileg! Welch ein für Milliarden Menschen auf der ganzen Welt geradezu unvorstellbares Glück, das uns seit 70 Jahren zuteil wird.

Und doch - so recht glücklich wirken nicht mehr viele Menschen in diesem freien, friedlichen Deutschland. Die unbeschwerte Freude an der Freiheit, sie scheint aus den Herzen zu schwinden. Die Gesellschaft, so hört und liest man allenthalben, verroht. Die Sprache wird rauher, die Gereiztheit nimmt zu. Man hupt öfter als früher, kommt mir vor, schon bei sekundenlangem Zögern an der grün gewordenen Ampel. Zweimal habe ich heute fremde Menschen auf der Straße im Streit um Nichtigkeiten einander "Halt's Maul!" zurufen hören. In sozialen Netzwerken wird geschimpft, gepöbelt und gepoltert. Wir sind frei. Wir dürfen das. Aber warum wollen wir es überhaupt?

Freiheit? Wie langweilig.

Vielleicht ist Freiheit einfach langweilig. Nichts ist tabu, nichts gilt als eindeutig richtig oder falsch, solange es das Gesetz nicht sanktioniert – und das Gesetz ist ziemlich liberal. Die Gesellschaft funktioniert, hier und da mehr schlecht als recht, aber im Großen und Ganzen sind die Rollen verteilt, die Wege vorgezeichnet und die Machtverhältnisse klar. Die Arbeiter arbeiten, die Manager managen, und den Rest macht der Staat. Veränderungen erfolgen langsam und kontinuierlich, ohne gewaltige Umbrüche, aufgrund wirtschaftlicher Entscheidungen oder im Zuge demokratischer Willensbildung. Kurz: Das Leben läuft. Alltag. So, wie es jetzt ist, könnte es theoretisch immer weitergehen.

Wie erregend wirkt in dieser Beliebigkeit, die alles erlaubt und alles ermöglicht, doch das Absolute! Wie beflügelnd der Gedanke, man könne die Mängel in unserer Gesellschaft nicht durch zähen Diskurs und fade Entwicklung, sondern durch Umsturz beheben, durch einen gewaltigen Schlag, der alles Gültige zertrümmert und etwas Neuem, Reinen Platz schafft. Auf einmal hat man wieder alle Chancen, auf einmal ist man wie berauscht vom Geist der Zeitenwende, von der Größe und Bedeutung dessen, was da geschieht, und das Herdenhaft-Kollektive überlagert jedes Denken. Dabei sein und gewinnen ist das Gebot der Stunde. Unsere Instinkte, die urzeitlichen Triebe unseres Stammhirns, die in unserer zivilisierten Umwelt so fieberhaft ein Ventil gesucht haben, finden im Kampf, in der Erfindung von Feindbildern, der Eroberung und Zerstörung des Bestehenden endlich wieder einen Gegenstand, der sie zittern macht vor Lust und Hoffnung.

Ja, dergleichen ist verlockend. Freiheit mag die Sehnsucht der Unfreien sein, aber sie wird langweilig, wenn man sie hat. In einer apollinisch geordneten Welt brodelt vielmehr die dionysische Lust am Chaos in unseren Seelen. In der Freiheit vermag nur noch das brisante Spiel mit der Unfreiheit zu provozieren.

Freiheit? Wie anstrengend.

Doch halt! Rufen nicht die selbsternannten Revolutionäre unserer Zeit gerade nach "Ordnung"? Das Chaos mag der Antrieb des umstürzlerischen Rausches ein, sein Ziel jedoch ist eine neue Ordnung. Aber eben nicht Ordnung im Sinne der freien Entfaltung des Individuums auf der sicheren Grundlage eines liberalen und sozialen Gemeinwesens, sondern Ordnung im Sinne von Einfachheit und Homogenität.

Denn Freiheit ist nicht nur langweilig, sie ist auch anstrengend. Wo der Staat nicht das gesamte Leben bestimmt und organisiert, ist der mündige Bürger auf sich selbst gestellt. Er muß seinen Lebensweg gestalten, seine Möglichkeiten ausschöpfen, für seinen Alltag sorgen und seine Karriere vorantreiben. Und hier liegt die Crux: Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat setzt auf das Individuum statt auf das Kollektiv und büßt somit an Integrationskraft ein. Vielen Ichs wird die Sehnsucht nach einem Wir nicht ausreichend erfüllt. Im Gegenteil: Wo die Freiheit des einen nur durch die Freiheit des anderen begrenzt wird, verwirklicht sich eine Vielfalt an Lebensentwürfen, die verwirrend ist und manche Menschen ästhetisch oder moralisch überfordert, ebenso wie die Komplexität der daraus erwachsenden Problemstellungen. Freiheit erzeugt Pluralismus, und Pluralismus wird seines Konfliktpotenzials wegen wiederum zur Herausforderung für die Freiheit. Freiheit braucht Bildung und (auch emotionale) Intelligenz, um gelebt und toleriert zu werden. Sie erfordert den Willen, beständig an seiner Wahrnehmung zu arbeiten, sich zu erweitern und für die Freiheit auch dort einzutreten, wo einem ihre spezifische Ausprägung nicht unbedingt gefällt. Wo dies ausbleibt, weil der medialen Verdummung kein soziales Korrektiv entgegenstand, ist Freiheit belastend und kann Streß auslösen.

Die Einfachheit eines klaren, eng umrissenen Weltbildes ist da natürlich sehr verführerisch! All das komplizierte Reden und Analysieren "der da oben", all die Verworrenheit und beängstigende Unüberschaubarkeit der Probleme, jener Gordische Knoten, der durch systematisches, geduldiges Aufdröseln einfach nicht zu lösen scheint, weil vielen längst die Fähigkeit zum komplexen, konstruktiven Denken abhanden gekommen ist, ist gar nicht mehr so bedrohlich, wenn man nur simpel genug darauf antwortet: Man muß ihn einfach zerschlagen, heldenhaft und kraftvoll, mit großer germanischer Geste, und all die künstlichen Wucherungen freiheitlicher Entfaltung werden ersetzt durch eine radikal simplifizierte Ordnung, die man verstehen und überschauen kann, und die nichts weiter erfordert als Anpassung. Freiheit gilt in diesem Denken nicht mehr als Privileg, sondern als Zumutung für die eigene Bequemlichkeit, und Vielfalt ist nichts weiter als eine unerwünschte Penetration des biederen kleinen Weltbildes durch neue Impulse.

Die Sehnsucht nach Autorität als Auswuchs der Freiheit

Und so hat denn die Freiheit selbst ihre Feinde hervorgebracht. Ein Privileg, das eigentlich genossen werden sollte, wird zur Belastung, weil der Umgang mit ihm nicht gelernt, nicht vermittelt, sondern einfach vorausgesetzt wurde – philanthropisch gedacht, aber offenbar lebensfern. Stattdessen wächst die Sehnsucht nach einer Autorität, die die anstrengende Freiheit des Individuums kollektiviert, ordnet und trägt. Wieso haben wir geglaubt, eine so enorme, großartige Aufgabe wie die Freiheit ließe sich dauerhaft bewältigen, ohne von der Pike auf gelernt worden zu sein? Haben wir Freiheit so absolut definiert, daß die Forderung, sich geistig und moralisch für die Freiheit, für die Vielfalt und für die Selbstbestimmung zu rüsten, bereits als Einschränkung eben jener Freiheit betrachtet wurde? Dann birgt unser Freiheitsbegriff ein Paradoxon, das ihn zerbrechen kann. Wenn wir die Freiheit erhalten und vor ihren Feinden schützen wollen, müssen wir neu über sie nachdenken. Wir müssen sie nicht nur als Geschenk, sondern auch als Herausforderung begreifen. Wir dürfen sie nicht nur haben, sondern müssen sie auch verstehen.

Ich sehe mich um in meinem Deutschland 2016. Ich sehe Menschen in Freiheit. Gleichgeschlechtliche Paare, die händchenhaltend über die Straße gehen, halbwüchsige Jungs aller Hautfarben, die verschwitzt und eifrig plappernd vom Fußballspielen kommen, ein deutsches Mädchen, das einem iranischen Mädchen auf dem Spielplatz unsere Sprache beibringt. Menschen aus allen möglichen Ländern, die in diesem Deutschland ihr Glück suchen. Und ihre Freiheit.

Und ich möchte, daß das so bleibt.