Die Bundestagswahl steht unmittelbar bevor, und bei vielen Menschen verstärkt sich in diesen Tagen der Eindruck, die Politik interessiere sich nur alle vier Jahre für ihre Bürger – dann nämlich, wenn mit Plakaten, Fernsehauftritten und großen Reden um genau die Stimmen geworben wird, die sonst in Parlamenten und Ministerien nicht gehört werden. Kein Wunder, daß sich da mancher zum Stimmvieh abgewertet fühlt und seine Teilnahme an der gesellschaftlichen Meinungsbildung auf zwei kleine Kreuzchen reduziert sieht. Für einige ist das sogar Anlaß zu lautstarken Zweifeln am System der repräsentativen Demokratie. Hier und da wird der Ruf nach Volksabstimmungen laut, in denen allein sich der wahre Volkswille offenbare und der vielbeschworenen Meinungsdiktatur der Eliten den gesunden Menschenverstand einer sonst schweigenden Mehrheit entgegenhalte. Was bleibt, ist ein fader Geschmack der Insuffizienz unserer Gesellschaftsordnung.
Dieser Frust ist gefährlich. Nicht nur, weil er der Demokratie ihre Unterstützer entzieht (eine der Todesursachen der Weimarer Republik) oder als aggressive Grundstimmung in unseren Alltag hineinwirkt (man achte nur mal darauf, wie schnell und anlaßlos heutzutage gehupt, geschimpft und gepöbelt wird), und nicht nur, weil Volksabstimmungen bei uns (gottlob) aus sehr guten Gründen nicht vorgesehen sind, sondern auch, weil eben dieser Frust auf einer ganz falschen Annahme beruht: daß wir nämlich nur alle vier Jahre die Wahl hätten, wie unser Leben aussehen soll. Denn diese Wahl haben wir alle jeden Tag.
Denn das Leben besteht nicht nur daraus, sich innerhalb politischer Rahmenbedingungen irgendwie zu arrangieren. Es ist geprägt vom Alltag, den wir gestalten, von einzelnen Menschen und Gemeinschaften, von Familie, Freunden und Arbeitskollegen, und auch von all den Unbekannten, denen wir Tag für Tag beim Einkaufen, im Bus, auf der Straße oder im Kino begegnen. Und hier, nicht in den Parlamenten, schaffen wir selbst die Stimmung, diese allgemeine Atmosphäre, die unseren Alltag, unsere Lebensqualität ausmacht.
Wir haben die Wahl, jeden Tag, wie gut, stressfrei, angenehm und befriedigend unser Leben ist, und diese Wahl ist keineswegs auf den vierjährlichen Urnengang beschränkt. Wir wählen auch unseren Beruf, unsere Freunde, und wen wir lieben; wir wählen, wie wir unsere Freizeit gestalten; wir wählen unseren Kleidungsstil und unsere Anschaffungen. Und wir wählen, wie wir miteinander umgehen. Ob wir uns anlächeln oder schimpfen, wenn wir uns auf dem Gehsteig entgegenkommen und ungeschickt in dieselbe Richtung ausweichen. Ob wir der alten Dame an der Supermarktkasse die fehlenden 10 Cent schenken oder sie anmuffeln, weil sie nicht so schnell ist. Wir wählen, ob wir mal jemandem die Vorfahrt gönnen, auch wenn er sich nicht hat, und ob wir der gestressten Kellnerin trotz der schlechten Bedienung ein ordentliches Trinkgeld geben. Wir haben die Wahl! Freundlich zu sein, gütig, großmütig und geduldig - egal, wie jemand aussieht, was er glaubt oder welche Sprache er spricht; hilfsbereit zu denen, die schwach und bedürftig sind, und ja!, einfach nett zu jedem, der uns begegnet. Mit allem, was wir tun, schaffen wir eine Stimmung, wirken auf die Gemüter und Seelen unserer Mitmenschen und beeinflussen das Leben als solches. Den Staat allein zur Projektionsfläche aller Unzufriedenheiten zu machen, ist kleinlich und feige. Schließlich kann sich auch politisch jeder nach Lust und Laune selbst engagieren. Das ist das Tolle an der Freiheit – das Tolle daran, die Wahl zu haben.
Das Leben ist so, wie wir es jeder für sich und alle zusammen machen, und Lebensqualität entsteht zu einem großen Teil aus unserem ganz alltäglichen Verhalten. Machen wir das Beste draus – wir haben die Wahl.
P.S.: Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich möchte hier keineswegs relativieren, daß es erhebliche Probleme gibt, die nur politisch lösbar sind. Ob es die bürokratischen Hürden sind, die den Existenzgründern in den Weg gestellt werden, oder die behördlichen Schickanen, denen sich Harzt-IV-Empfänger ausgesetzt sehen; ob es um Pflege oder Sicherheit, um Rente oder soziale Gerechtigkeit geht – all das sind bedeutende Themen, die schwer auf vielen Menschen lasten und fraglos in der Verantwortung derer liegen, die sich als Vertreter des Volkes in Ämter und Würden haben wählen lassen. Und deren Versagen allzu oft beschämend ist.