Zu Ostern war er mir plötzlich wieder sehr präsent, der Gott meiner Kindheit. Und ich habe ihn begrüßt wie einen guten alten Freund, den man im Alltag zwar sehr vernachlässigt, über dessen unverändertes Wohlwollen man sich nach längeren Begegnungspausen gleichwohl von Herzen freut.
Es ist - natürlich - der Gott der Bibel, der mir zu Ostern entgegentritt, jener Bibel, die ich schon als Kind geliebt habe. Und noch heute, nach einem Studium der Literaturwissenschaft und einigen Jahren Lebenserfahrung, halte ich sie für das Buch der Bücher. Nichts, was die Weltliteratur in der gesamten Menschheitsgeschichte zustande gebracht hat, findet sich dort nicht vorgezeichnet. Doch schweife ich ab.
Diesen Gott jedenfalls fand ich immer schon cool. Er war für mich nicht, wie für viele Kinder, deren religiöse Erziehung in erster Linie aus grausigen Strafandrohungen besteht, ein Angstfaktor, auch wenn in vielen Geschichten gerade des Alten Testaments von seinem Zorn die Rede ist. Er war für mich vielmehr ein Verbündeter, dessen Zorn ich nicht zu fürchten hatte, da ich ja auf seiner Seite war. Und auf seine Seite zog mich keineswegs die moralische Reinheit meines kindlichen Wesens (nein, die ganz gewiß nicht), sondern gerade der unbeherrschte, tobende Jähzorn des alttestamentarischen Gottes, den ich von mir selbst auch kannte, und der mich diesem Gott ähnlich, wenn nicht gar gleich zu machen schien.
Seinen Zorn, die Bestrafung der Feinde und den Bruch allen Widerstandes mit der Entfaltung unbegrenzter Machtmittel durchsetzen zu können, hat mich immer tief beeindruckt. Nicht vorrangig aus moralischen Gründen. Natürlich gönnte man es den blöden Sodomiten, daß sie vertilgt wurden, und den Ägyptern, daß sie ersoffen. Sie hatten sich ja wahrlich idiotisch aufgeführt. Aber das eigentliche Faszinosum steckte in der göttlich zur Schau gestellten Theatralik.
Ja, es schien mir großartig, ein Meer zu teilen oder eine Flut zu schicken, Frösche regnen zu lassen oder eine Feuersbrunst zu entfesseln! Die Schau, die Gott, keine Kosten und Mühen scheuend, abzog, fand ich zum Erzittern grandios. Mein kindliches Gemüt hatte viel Sinn dafür, wie wütend, beleidigt, radikal und nachtragend Gott werden konnte, und wie effektvoll er diese Gefühle zu inszenieren wußte. Ein unreifes, launenhaftes präpubertäres Wesen mit unbeschränkter Macht. Was konnte einem hybrischen Kinde wie mir idealer erscheinen?
Daß Gott im Neuen Testament dann ruhiger wurde und plötzlich auch Sünder und Gegner zu lieben begann, fand ich ganz in Ordnung, bemerkte ich an mir selbst doch ebenfalls eine Reifung und eine Entwicklung von der tobenden Durchsetzung meines Willens (die leider mangels göttlicher Machtmittel nicht immer funktionierte) zu einem bedachten und etwas philanthropischerem Verhalten. Jesus schien einen wirklich guten Einfluß auf seinen alten Vater zu haben; erst durch die "Fortpflanzung" schien Gott, wie viele Männer, endlich erwachsen geworden zu sein. Zwar fehlt mir die Erfahrung eigener Kinder, aber ich kann mir ungefähr vorstellen, was der Sohn bei Gott ausgelöst hat: Wer der Menschheit Liebe beibringen soll, wächst besser nicht mit einem cholerischen Vater auf.
Wir sind also erwachsen geworden, mein Gott und ich. Ruhiger, geschickter, wohlwollender. Die Schau ist nicht mehr so grandios. Aber das ist in Ordnung. Es ermüdet doch sehr, immer grandios zu sein. Diese Ostern haben wir uns wiedergesehen. Wir lächeln immer, wenn wir uns sehen. Still und einvernehmlich belächeln wir unsere jähzornige Jugend. Und freuen uns aufs nächste Jahr.