„Heute“, beginnt er grußlos und zerhackt mit der rechten Hand die Luft, die Finger leicht gespreizt außer Ring- und Mittelfinger, die unzertrennlich aneinanderliegen, „erschaffen wir das Leben! Jeder sein ganz eigenes, so wie ihr es euch vorstellt. Sucht euch das passende Material und legt los!“ Nachfragen gibt es nicht; man weiß schon, daß der Meister sie ohnedies nicht beantwortet. „Seht euch meine 'Welt' an, da findet ihr alle Vorgaben!“ sagt er immer. 'Die Welt', das ist sein Meisterwerk, das ihn einst berühmt gemacht hat, sein Maßstab, sein Vermächtnis. Die wenigen kritischen Stimmen, die gelegentlich auf die Schwächen des Werkes hinweisen, werden mit der umfassenden Behauptung zum Verstummen gebracht, das sei genau so gewollt, was das Werk schließlich noch genialer erscheinen läßt.
Die Schüler sind vorbereitet. Sorgfältig haben sie ihr Werkzeug zurechtgelegt, Werkzeug recht unterschiedlicher Qualität übrigens, das sie teuer erworben oder mühelos geerbt haben. Man sieht Meißel in allen Größen, Hämmer verschiedener Schlagkraft, feine oder grobe Sägen, Spachtel, Schnitzmesser oder die bloßen Hände – jeder nutzt, was er hat. Nun kommt Bewegung in die Klasse. Alles drängt und strebt zu den Materialien hin, den Stoffen, aus denen sie ihre Skulptur, ihr 'Leben' gestalten wollen. Einer greift etwa nach einem Klumpen Ton; viel ist nicht da – er wird seine Skulptur hohl ausführen müssen. Vielleicht vergoldet er sie nachher noch, damit sie beeindruckender wirkt. Eine nimmt sich den dicken Baumstumpf; sie möchte es wohl natürlich haben. Wieder ein anderer wählt einen Block aus schwerem, schwarzen Granit; er möchte etwas Solides schaffen, das etwas darstellt, wie er sagt. Ein paar schweißen Stahlteile zusammen, die ihnen gefallen, und einige verwenden gar Müll in mehr oder minder kunstvoller Anordnung. Einem fällt gar nichts ein; er entscheidet sich, einen Abguß einer bereits vorhandenen Skulptur anzufertigen. Und so beginnen sie alle.
* * *
Ich selbst wähle mir den Marmor als Material, denn ich möchte mein 'Leben' klassisch schön gestalten, mit jenen verwegenen Stilbrüchen zwar, die ich so mag, und voller Spannung, aber eben doch geordnet, geschaffen nach den Idealen einer antiken, ewig gültigen Ästhetik, weiß, rein, vollkommen. Das Werkzeug liegt bereit; ich hatte das Glück, eine besonders hochwertige Ausstattung zu erben von meinem Großvater und auch meinem Vater. Ich habe sie gereinigt, geschärft, ergänzt und bin bestens vorbereitet. Also beginne ich. Die Ideen, was zum Leben, zu meinem, gehört, kommen mir schneller als ich meißeln kann – das Schöne, das Bewährte, das Neue und das Gute, Kopf und Herz und Hand; ich habe das fertige Werk im Kopf, alle Einzelheiten erdacht und in perfekter Harmonie angeordnet, aufeinander abgestimmt und ins richtige Verhältnis zueinander gesetzt. Die Form, die erzählende Gestalt, die ich im Kurs letzte Woche meiner 'Liebe' gegeben habe, möchte ich einarbeiten in mein 'Leben', ja zum zentralen, sinngebenden Element der Skulptur möchte ich sie erheben, alles zusammenhaltend, umfassend, durchdringend und prägend. Verstand, ja, den braucht es auch. Eine Berufung, eine Leidenschaft. Träume, Hoffnungen, Wünsche, Ängste. Glauben, Güte. All das schwebt mir vor Augen, und ungeduldig mit pochendem Herzen meißele ich alles weg, was nicht dazugehört, quälend langsam, weil das Werk in meinem Kopf viel schneller reift und wächst als meine Hände es vollenden können. Hell scheint die Sonne durch die großen Atelierfenster, und je deutlicher sich mein Bild vom Leben aus dem weißen Stein erhebt, desto mehr füllt sich das Material mit der Wärme des Sonnenlichts. Nicht einfach nur umfassend, nicht durchdringend gelingt mir die Liebe, sondern hineinfließend in alle anderen Bilder des Lebens und diese gleichsam hervorbringend. Ich bin erregt und glücklich darüber, wie gut es läuft, und immer noch wärmt mich die Sonne. Alles um mich herum füllt sich mit weißem Licht, in dem die anderen Kursteilnehmer versinken und ihr Hämmern und Sägen verstummt, und wie im Rausch allumfassender Erkenntnis vollende ich mein Werk. Ein letzter Schliff, ein prüfender Blick, und es ist fertig – schön, harmonisch, ein Traum in Form und Ausdruck, mein Ideal des liebenden, geordneten Lebens. Und wie ich gerade weich und wohlig im Glück dieses Anblicks versinken will, zieht sich die Sonne eine Wolke vors Gesicht, und der raumlose Glanz um mich herum wird schattig und kühl. Dann zerreißt ein lautes Knacken die Stille, und ein Sprung geht durch mein 'Leben', mitten durch die Liebe, die es durchfließt und formt. Mein Herz setzt aus; kaltes Grauen lähmt mein Begreifen, und ehe ich erfasse, was soeben geschah, kehrt das Licht zurück. Doch der Schaden ist entstanden.
Und dann beginnt es: Ein feines Blättchen Marmor hebt sich vom festen Stein, wie ein Stück abblätternde Farbe, wölbt sich, reißt an den Rändern ein und wird größer; wie von einem Wind erfaßt, den ich nicht spüre, nicht höre, löst es sich ab und schwebt federleicht davon ins weiße Licht. Und während es meinem Blick entschwindet, beginnt ein weiteres Stück, sich von der glatten Oberfläche meiner Skulptur zu lösen, reißt ein, trennt sich ab und taumelt schwerelos empor. Und dort noch eins. Da zwei. An anderer Stelle ein ganzes Feld. Überwältigt von der entsetzlichen Schönheit des Geschehens schaue ich zu, wie mit einemmal zahllose Blättchen, hauchfeine Fetzchen der Oberfläche auf dem ganzen Werk wie ein Daunenfederkleid im Sturm flattern und rauschen, sich ablösen und in einem dichten Schwarm emporwirbeln, um im weißen Licht dem hilflosen Blick zu entschwinden. Der stumme Wind schwillt an, ohne daß ich weiß, woher er kommt, und mehr und mehr Stückchen werden davongeweht. Wie tausend weiße Schmetterlinge, die eben noch eine glatte Fläche, eine feste Form gebildet haben, verfliegt meine ganze Skulptur und löst sich auf und ist dahin. Das letzte Fetzchen verliert sich im weißen Licht, und nichts bleibt zurück als gleißende Leere. Mein 'Leben' hat sich aufgelöst, gerade als es vollkommen schien.
Nur langsam löst sich der Bann. Langsam, ganz langsam taucht aus dem weißen Licht der Raum um mich herum wieder auf, die Schüler, ihre Werke und der Meister, der durch die Reihen geht, um zu schauen, zu begutachten, was sie zustande gebracht haben, welche Bilder, welche Formen und Inhalte sie ihrem 'Leben' gaben. Er schmunzelt hier, zieht dort die Brauen zusammen, hebt sie erstaunt oder rollt vielsagend die Augen. Als er bei mir ankommt, blickt er mich fragend an. „Gar nichts?“ sagt er. „Nicht einmal eine Oberflächlichkeit wie das hohle, goldene Tonbild dort? Keine angeberische Monströsität wie das Granitgebilde da drüben? Oder jenes hölzerne Naturspektakel, das ganz offenbar meine schöpferische Nähe sucht und doch nur Gestus bleibt? Und Sie? Das beste Werkzeug, das größte Talent des ganzen Kurses, und dann so gar nichts?“
Er klingt enttäuscht, bitter enttäuscht, und ehe ich, noch ganz verwirrt wie gerade erst aus einem schrecklichen Traum erwacht, eine Antwort ersinnen kann, ist der Meister weitergezogen.