Montag, 27. März 2017

Europa - eine Grundsatzentscheidung

Europa reitet wieder. Auf dem Rücken des Stieres rast sie in wildem Galopp geradewegs auf den Ozean zu. Doch diesmal ist das Ziel nicht eine Insel der Liebe. Diesmal lockt die Verführung des mächtigen Bullen zum Untergang im dunkelheißen Rausch zerstörerischer Lust.

Eine Malerin schrieb mich neulich an. Sie lese regelmäßig meine Texte und wolle nun meine Gedanken zum Thema "Europa" in Bildkunst umsetzen. Ob wir uns zu einem Interview treffen könnten. Ich sagte natürlich zu. Und machte mir Gedanken.

Das wohl bekannteste Bildmotiv stellt Europa als eine Frau dar, die von einem wilden, starken Tier verführt wird. Der Stier ist zwar eigentlich ein Gott, aber er zeigt, wie leicht der zu apollinischer Schönheit gereifte Mensch durch das dionysisch-animalische Urwesen verlockt und verführt werden kann. Damit ist ein Gegensatz skizziert, anhand dessen sich viele derzeitige Entwicklungen und Veränderungen in Europa nachvollziehen lassen: Vernunft vs. Instinkt, Humanismus vs. Animalismus.

Europa als humanistisches Friedensprojekt

Europa* ist das fulminanteste Einigungsprojekt der Menschheitsgeschichte. Es war Konsequenz und Lehre aus dem furchtbarsten Blutbad, das die Welt je gesehen hatte, und basiert auf einem tief in der europäischen Geistesgeschichte verwurzelten Humanismus. Der Grundgedanke des einigen Europas ist: Konfliktvermeidung durch Gemeinsamkeit, Wohlstand durch Freihandel, Sicherheit durch Einigkeit.

Frieden, Freiheit und Demokratie gründen also auf der humanistischen Vernunft und setzen die Fähigkeit und den Willen voraus, evolutionär verankerte, gleichsam naturgesetzliche Verhaltensmuster, die immer noch in unserem Stammhirn veranlagt sind, bewußt zu überwinden. Die Grundwerte der europäischen Einigung fungieren mithin als einzig wirksame Heilmittel gegen Tyrannei, Haß und Krieg.

Das Tier in uns oder: Die Urangst vor der Freiheit

Aber Freiheit, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung - Privilegien also, die wir eigentlich schätzen und genießen sollten - machen das Leben auch komplex und überfordern viele. Daraus erwächst eine erhebliche Verunsicherung und Haltlosigkeit, eine atavistische Sehnsucht nach Führung, Orientierung und Eindeutigkeit, nach Verbindlichkeit und einer simplen kategorischen Einteilung in Zugehörigkeit und Fremdheit, die das Leben überschaubar und gefühlte Bedrohungen leicht identifizierbar macht. Folge: Das evolutionäre Backup des Menschen, sein Stammhirn nämlich fährt hoch und gewinnt die Hoheit über Meinungsbildung und Verhalten.

Populistische Parteien bedienen genau diese emotionale Bedarfslücke, die die reine Vernunft öffnet. Sie appellieren an den Herdentrieb der Menschen und machen sich eben jene Stammhirnreflexe zunutze, die die europäische Einigung zu überwinden hoffte: ein tiefes Mißtrauen gegenüber allem Artfremden, Imponier- und Balzgehabe sowie Revierkämpfe, die auch beim scheinbar so entwickelten homo sapiens noch einen Großteil der Reaktionen steuern. Dabei verwenden die Demagogen sogar explizit biologistische Argumente, sprechen von "Ausbreitungstypen" und "evolutionären Chancen", "Kulturkämpfen" und "Volkskörpern" - man mache sich das klar: Sie reduzieren ihre Klientel auf animalische Grundeigenschaften, und die findet das auch noch gut und fühlt sich endlich verstanden! Europa, so scheint es, hat sich seinem inneren Stier ergeben. In wildem Galopp reißt er es dem Untergang entgegen. Das globale Aufkeimen von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zeigt nicht mehr und nicht weniger als eine Rückbesinnung vieler mit dem Humanismus überforderter Köpfe auf ihr tierisches Erbe, das Stärke und Halt im homogenen Kollektiv verspricht. Und es beginnt die gefährliche Reanimalisierung des Menschen.

Der Humanismus - das wahre Wesen Europas

Aber: Der Mensch ist mehr als seine Urinstinkte; der Kopf enthält mehr als nur ein Stammhirn. Und Europa ist eben mehr als Stämme und Nationen, die sich beäugen, abgrenzen und zu dominieren versuchen. Der Mensch besitzt Vernunft, Geist und Bewußtsein. Und er besitzt Europa als politische und wirtschaftliche Einheit, die der kulturellen Vielfalt, der Heimatliebe und sogar der vielbeschworenen nationalen Identität keinerlei Abbruch tut.

Europa steht vor einer Grundsatzentscheidung: Vernunft und Humanismus, Frieden, Freiheit und eine gemeinsame Demokratie, oder Rückfall in Ressentiments, Abgrenzung, Gewalt und Tyrannei, Leid, Krieg und Elend, wie sie schon immer Folge blinden Herdentriebs waren. Sich diesmal nicht vom Stier zu rauschhaftem Untergang verführen zu lassen, sondern als aufgeklärte Menschen gemeinsam unseren Weg zu gehen und eine lebenswerte Zukunft zu gestalten, sollte jedem Europäer Aufgabe, Pflicht und Freude sein.


* Bei der Interviewanfrage ging es explizit um Europa im Sinne der europäischen Einigung nach 1945. Ich setze also das geographisch-historisch-kontinentale Europa und die politischen Bündnisse EWG, EAG, EG und EU keineswegs gleich, verzichte aber hier bewußt auf eine Differenzierung, weil Europa als Begriff für mich mittlerweile ohne seinen politischen und wirtschaftlichen Einigungsprozeß nicht mehr vorstellbar ist. Natürlich ließe sich darüber trefflich debattieren; es ist indes nicht Gegenstand dieser Betrachtungen. Ebenso geht es hier nicht um die unbestreitbare Tatsache, daß das institutionelle Europa erhebliche Reformen und Verbesserungen braucht - Stichworte mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Bürgerbeteiligung und eine gerechtere Lastenverteilung. Alles ganz klar. Aber hier soll über eine Grundidee, ein Ideal reflektiert werden, und darüber, was wir alle tun können, um es zu erreichen.