Eine Momentaufnahme
Ich sitze in einem Vortrag. Ein junger Doktorand aus Burkina Faso berichtet über die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in seinem Heimatland. Bei einem Durchschnittslohn von 74 US-Dollar im Monat führt dort kaum jemand ein üppiges Leben. Die große Mehrheit der Bevölkerung muß mit etwa einem Dollar pro Tag und Person auskommen. Hunger sei kein ständiges, aber ein regelmäßiges Problem, erzählt der Doktorand.
Hunger habe ich auch.
Es ist Fastenzeit, und ich praktiziere sie, indem ich nur alle zwei Tage esse. Das macht mir nicht viel aus; es tut mir sogar gut. Aber jetzt hat sich mein Tischnachbar ein paar Nürnberger mit Sauerkraut und drei Stückchen Brot bestellt, und der würzige Duft der leicht angebrannten, saftigen Bratwürstchen löst Heißhunger bei mir aus. Der Doktorand beschreibt gerade eine Dürre im Norden seines Landes, die eine Hungersnot verursacht habe.
Mir knurrt der Magen.
Der Tischnachbar ist fertig mit Essen. Achtlos hat er die zerknüllte rote Papierserviette auf den Teller geworfen, auf dem er die drei Stücke Brot und ein halbes Würstchen übriggelassen hat. In meiner Gier kommen mir diese Reste wertvoller vor als Gold; das untere Brotstück hat ein wenig Bratensaft aufgesogen, und das Wurststück riecht immer noch köstlich! Wie gern würde ich diese Überbleibsel in mich hineinschlingen, wie wundervoll würde mir jetzt gerade schmecken, was jemand anders dem Abfall überläßt! Fünf Prozent der Bevölkerung besäßen weit über 80 Prozent der Produktionsmittel und des Vermögens, führt der Doktorand soeben aus.
Habe ich eigentlich Geld dabei?
Eine Sekunde bin ich in Versuchung, mir wenigstens ein Stück Brot vom Teller zu stehlen. Selbstverständlich verkneife ich es mir. Ich muß keinen Hunger haben, wenn ich nicht will. Ich könnte mir auch selbst ein paar Nürnberger bestellen. Aber dieser kurze Moment der Versuchung, die innige Verlockung des halben Würstchens und die Vorstellung von den süßen Wonnen seines Verzehrs haben mir gezeigt, wie begehrenswert, wie groß und wertvoll für den einen sein kann, was der andere verschmäht.
Erstaunlich. Ein bißchen beschämend.
Der Doktorand ist fertig; das Publikum applaudiert. Ich ebenfalls. Heute habe ich nicht nur ein paar Zahlen und Fakten über ein mir völlig unbekanntes Land gelernt. Sondern auch, wie achtsam, wie bewußt und respektvoll wir mit dem umgehen sollten, was wir haben, und was uns allzu oft selbstverständlich erscheint. Ich habe gelernt, wie sich Hunger im Angesicht des Überflusses anfühlt, und daß wir alle mehr teilen und weniger wollen sollten. Denn nur darin liegt eine echte Chance auf Glück und Zufriedenheit für alle Menschen auf dieser unglaublich wundervollen, vielfältigen Welt.