Irgendwann war er da, dieser Jesus, angekommen in meinem Leben durch das tiefe, wohlige Einatmen der religiösen Schwebeteilchen in der Atmosphäre meiner Herkunft, und er fand in mir einen sofortigen Bewunderer. Was für ein Mensch! Mutig und unbeirrbar, charismatisch und wundertätig, und dabei doch nie getrieben von Geltungssucht und Eigennutz, sondern einfach nur durchglüht von Liebe und Güte allen Menschen gegenüber, sogar Feinden und Sündern. Nie setzte er seine revolutionären Lehren mit Gewalt, Herabsetzung, Macht oder List durch, sondern war allein durch die Kraft seiner Worte und die Güte seiner Taten zutiefst überzeugend.
Der Glaube an den Frieden, der nur möglich wird, wo er reinsten Herzens gewollt ist, setzte sich früh in mir fest, und die Überwindung der Grobheit, des Streites und Wettbewerbs, des eigennützigen Gierens nach Vorteilen, Macht und Herrschaft durch Bescheidenheit, Verzicht, Gemeinschaft und Güte schien mir (und scheint mir bis heute) die höchste Entwicklungsstufe zu sein, die der Mensch zu erreichen vermag. Wie schlicht kamen mir dagegen die Menschen vor, die das Leben als Kampf sahen, wie allzu sehr von dieser Welt, wie viehisch gar die Gestalten, die stumpfen Sinnes stets die Besten und Stärksten sein wollten und in ihren tumben Triumphen Befriedigung suchten.
So wollte ich nicht sein. Ich wollte es lieber wie Jesus machen und Güte walten lassen, auch wenn es mir Nachteile brächte. Sich durchsetzen, stark sein, etwas gelten, Leistung, Anerkennung - diese Begriffe wurden mir zu widerwärtigen Vokabeln niederer, selbstsüchtiger Lebensentwürfe, die ewigen Wettstreit, Eifersucht und Ehrgeiz erzeugten, eine Systematik von Über- und Unterlegenheit schufen und damit nichts als Unfrieden in die Welt brachten.
In meiner Überzeugung, mit meiner Wahl richtig zu liegen, wurde ich lustigerweise noch bestärkt durch so fulminante Filme wie "König der Könige" oder "Quo vadis?", die meine Kenntnis der Bibelgeschichten mit einer pathetischen Begeisterung aufluden. In diesen Werken wuchs, was etwa mein Großvater mir in bescheidener Eindringlichkeit vermittelt hatte, zur monumentalen Bestätigung heran: Wie sehr identifizierte ich mich mit diesem Johannes, der in schmutzigen Lumpen die Taufe spendete und doch über das eitle Prunkgehabe des Herodes Antipas so meilenweit erhaben war; wie innig verband ich mich mit Jesus, den die weltliche Macht zu brechen glaubte, weil sie nicht verstand, wie bedeutungslos ihre Werte in den Augen seiner allmächtigen Liebe waren; und wie leidenschaftlich wurde ich eins mit den Christen, die in der Arena zur Erheiterung eines herzensdummen Weltmachtpöbels (ganz gleich ob in der Kaiserloge oder auf den einfachen Zuschauerrängen) den Löwen vorgeworfen wurden - und dabei sangen, weil sie sich ihrer Unbesiegbarkeit jenseits aller irdischen Machtverhältnisse so ungemein bewußt waren.
Und so verweigerte ich mich jeder Lebensgrobheit, haßte Noten, Zeugnisse und die Bundesjugendspiele, ballte nicht mal im Gehen die Hände zu Fäusten, weil mir diese Geste, auch wenn sie nur der Kälte geschuldet war, zu aggressiv, zu verwandt der Körpersprache jener rauhen Naturen schien, denen ich mit reiner Güte zu begegnen trachtete. Ein warmes Mitgefühl durchströmte mich, eine hochsensible Abneigung dagegen, jemanden schlecht aussehen zu lassen oder ihm einen Nachteil zuzufügen. Christ, ja mehr noch: ein Jünger Jesu zu sein, erfüllte mich mit einem trotzigen Stolz, der mich über die niederen Kämpfe des Lebens erhob und mir die Gewißheit gab, am Ende doch auf der Siegerseite zu stehen.
Diese Gewißheit erfüllt mich heute noch, und so stolz ich einerseits auf diese Entwicklungsstufe bin, so verheerend wirkt sie sich zuweilen im existenziellen Alltag aus. Denn die Mehrheit der Menschen folgt nun einmal eher evolutionären als göttlichen Mechanismen, und die Gesellschaft definiert immer noch die egoistischsten und rücksichtslosesten Vertreter der Spezies als "Gewinner", die eben nichts als ihre Interessen im Sinn haben, darin sogar echohaft bestätigt werden und so die Maßstäblichkeit weltlichen Erfolgs dynamisch am Leben erhalten.
Diesen ewigen Kampf nicht aus Schwäche oder Feigheit (wie gern behauptet wird), sondern aus Güte und Gleichmut immer wieder zu ignorieren, mag zwar eine gewisse moralische Befriedigung bergen, zeitigt aber auch ein häufiges "Verlieren" oder zumindest Hintanstehen. Wenn im Supermarkt endlich die zweite Kasse geöffnet wird, fehlt mir jeder Impuls, als erster hinzustürmen und den Zeitvorteil einzuheimsen; ich überlasse es im Gegenteil mit gütiger Freude jenen Menschen, die darin einen tatsächlichen Gewinn sehen. Am überfüllten Tresen warte ich länger als jeder andere auf mein Getränk, weil mir der Drang zum Drängeln fehlt, und wo es im Geschäftsleben darum geht, dreist und eigensüchtig seinen Vorteil zu sichern, ziehe ich oft den Kürzeren. Mir ist das alles zu banal, zu stumpf, zu diesseitig und zu nutzlos, und tief, sehr tief hat sich die Botschaft Jesu bei mir eingebrannt, im Zweifel auch die andere Wange hinzuhalten, Seligkeit in der Sanftmut zu finden und wie die Lilien auf dem Felde darauf zu vertrauen, daß mich mein himmlischer Vater ja doch ernährt. Was er tatsächlich tut.
Die Teilnahme am Dasein, so wie es nun mal ist mit all seinen viehischen Trieben und evolutionären Impulsen, hat mir Jesus mit seinem liebestrunkenem Hippietum gründlich verdorben. Seine Lehre wirkt sich auf mein Leben als erhebliche Erschwernis aus, weil mir (mangels Sinnerkennung) jeder Antrieb fehlt, die allzu weltlichen und irgendwie sogar sündhaften Regeln des "Gewinnens" und "Aufsteigens" zu befolgen. Nicht ganz einfach, nur durch Qualität und ein integeres Wesen zu überzeugen. Aber machbar. Und im Herzensgrunde wollte ich es, allen Schwierigkeiten zum Trotze, auch gar nicht anders haben.