Eine Zweifelschrift
Deniz Yücel ist frei. Bundesaußenminister Gabriel genießt diesen diplomatischen Erfolg und versucht ganz offenbar, ihn für seine Positionierung in einer neuen Regierung zu nutzen. Zugleich hat er sich bei der türkischen Regierung für das Ende ihrer Geiselnahme bedankt, und ja, das empört mich. Ich hätte mir eine klarere, europäische Werte unmißverständlicher vertretende Ansage und einen entschlosseneren, konfrontativeren Umgang mit dem Diktator in Ankara gewünscht.
Denn Gabriel hat beim "walking softly" eben keinen "big stick" getragen, wie Theodore Roosevelt es einst empfahl. Erdogan hat vielmehr, einem Druck nachgebend, der von völlig anderer Seite kam, weil er sich nämlich mit seinem größenwahnsinnigen Gebahren in eine Position gebracht hat, die er nicht mehr beherrschen kann, ein Zugeständnis an ein Land gemacht, von dem er wußte, daß es einen Schmusekurs fährt und ihm so Einfluß in Europa ermöglicht. Die Freilassung Yücels nun ausschließlich einer geschickten und beharrlichen deutschen Diplomatie anzurechnen, ist so realitätsfern wie die gesamte Türkeipolitik der Bundesregierung, und daß Gabriel wichtige internationale Gesprächspartner in München sitzen läßt, um sich bei Springer in Berlin als Retter feiern zu lassen, sagt so einiges über sein Selbstverständnis aus.
Den "big stick" hätten Europa und Deutschland durchaus in der Hand - die Türkei ist von der EU wirtschaftlich vollkommen abhängig. Würde man das System Erdogan mit allen verfügbaren Mitteln sanktionieren, wäre es zu Änderungen und Zugeständnissen gezwungen - Putin, wahrlich kein Vorbild als Staatsmann, aber eben aufgrund seines eigenen Machtkalküls geschult im Umgang mit anderen Schlägern, hat es vorgemacht: Binnen 24 Stunden hat er nach dem Abschuß eines russischen Militätflugzeugs durch die türkische Armee harte Sanktionen verhängt, und keine zwei Monate später stand Erdogan bei ihm auf der Matte und hat klein beigegeben. Und das sind nicht mal die einzigen Mittel. Eine gezielte Stärkung der Opposition, eine klare Stellungnahme zu den Angriffen auf kurdische Gebiete und ein Aussetzen aller Waffengeschäfte träfen das Regime an den richtigen Stellen.
Diese Sprache versteht Erdogan. Im ersten Aufbäumen des getroffenen Systems würde die Lage im Land vielleicht noch schlechter für Kritiker und Oppositionelle, aber langfristig hätte die Tyrannei keine Grundlage mehr. So jedoch verfestigen wir die Diktatur und liefern die Menschen auf Dauer der Unterdrückung und sogar der Vernichtung aus. Vor diesem Hintergrund ist die Freilassung eines (!) Journalisten (zeitgleich mit der lebenslänglichen Verurteilung sechs anderer - klarer könnte man die Lage nicht abbilden!) ein geradezu jämmerlich geringer "Erfolg".