Sonntag, 10. Juni 2018

Blick auf die Freiheit

Beinahe wäre ich nicht hergekommen. Aus reiner Faulheit; es war ein langer Tag, und ich bin erschöpft. Aber so oft bin ich nicht in dieser Stadt; das letzte Mal ist 29 Jahre her. Also habe ich mich aufgerafft und bin hergefahren. Zum World Trade Center Memorial. Zum Ground Zero. Und es erweist sich gerade als die bedeutendste, die bewegendste Station meines ganztägigen Spaziergangs durch dieses einzigartige, mitreißende New York.

Die beiden großen Becken, die genau da in den Boden eingelassen sind, wo die beiden Türme standen, sind wunderbar würdig und tragen der Bedeutung des Ortes Rechnung. Aus der Ferne sind sie ganz unauffällig, setzen mehr auf Tiefe denn auf Monumentales. Ihre grandiose, berührende Wirkung entfalten sie erst, wenn man an ihren Rändern steht, die die Grundform des ursprünglichen World Trade Centers genau nachzeichnen und sie auf ewig in den Boden der Stadt prägen. Bestimmt und beeindruckend genug ist diese Stätte, amerikanisch selbstbewußt, und doch bescheiden und demütig, ein gleichmäßiges Rauschen der Stille und des Gedenkens.

Die schwarzmetallene Balustrade mit den vielen, vielen Namen, in deren Buchstaben hier und da Rosen oder Flaggen stecken, schafft respektvollen Abstand und macht die Fläche des grausamen Geschehens vom 11. September 2001 unbetretbar wie heiligen Grund. Wasser fällt von den Wänden der Becken einige Meter hinab in die Tiefe, rauschend, unaufhaltsam, ein bißchen das Geräusch einstürzender Häuser zitierend, aber gleichmäßig, nicht einen schrecklichen, unfaßbaren Endzustand herbeiführend, sondern dauerhaft, sodaß es auf ergreifende Weise beruhigt und versöhnt, so ewig, unbeirrbar und kraftvoll wie die Freiheit selbst, die auch die Wahnsinnstat jenes Tages nicht zu zerstören vermochte.

In der Mitte der Becken ist jeweils ein rechteckiger Schacht angelegt, tief genug, daß man von den Rändern aus keinen Boden, kein physisches Ende zu erkennen vermag, was eine Illusion unendlicher Tiefe schafft, aber eben nicht einer verzweifelten Tiefe unwiederbringlichen Vergessens, in das das flach sich sammelnde Wasser ein zweites Mal hinabstürzt, sondern einer Tiefe, die geradewegs zum Urgrund unseres Seins führt, ins Ideenfundament unseres Lebens, zur Freiheit, die uns kraftvoll trägt, ohne daß wir es sehen.

Tief bewegt stehe ich da, und sogleich schieben sich drei Zeitebenen übereinander wie milchige Bilder: Der Tag im Juli 1989, an dem ich so stolz war, auf das World Trade Center hinaufzufahren, und mir so weltgewandt vorkam, während ich den erhebenden Ausblick auf ein sonnenbestrahltes Manhattan genoß, ja in mich aufsog; der heutige, diesige Tag im Sommer 2018, an dem die Häuser nicht mehr existieren, die mich damals so begeistert haben, und ich an ihrer Stelle, in ihrer Form zwei tiefe, rauschende Becken finde, auf denen die Namen tausender Toter stehen; und jener furchtbare 11. September dazwischen, an dem sich die Welt, die ich kannte, unwiderruflich veränderte. Ich stehe da und blicke nach oben. Unvorstellbar, daß in diesem Luftraum über mir einst gearbeitet, geplaudert, gescherzt, gehofft und gewirkt wurde; unvorstellbar, daß es irgendwo dort, 415 Meter über mir, ein Stückchen Raum gibt, das ich einst mit diesem Körper ausgefüllt habe, der nun an einem rauschenden Becken steht und ungläubig und beklommen emporschaut zu seinem früheren Selbst, das auf einem geisterhaft sich vor mir erhebenden World Trade Center steht und sich wunderbar fühlt. Alles wird eins; mir ist, als blicke ich von unten hinauf und zugleich von oben herab auf die Becken im Boden, kaum begreifend, was ich da sehe, als plötzlich das erste Flugzeug heranrast und unter mir und über mir einschlägt in den Nebelturm, und in einem Feuerball löst sich meine Vision auf. Die Angst, die Todesgewißheit, die letzten Anrufe und Textnachrichten an die Geliebten, die fallenden und springenden Menschen, alles schreit entsetzt auf in meinem Kopf und verhallt im Rauschen des Beckens, an dem ich heute, 2018, stehe.

Still spaziere ich die Esplanade hinunter, ein gutes Stück, und setze mich auf eine Bank. In der Ferne kann ich die Freiheitsstatue sehen, dieses Symbol dafür, wie wir uns unser Leben wünschen - frei, hoffnungsvoll und ohne Angst und Bedrohung. Und mit diesem Blick auf die Freiheit verspüre ich in mir eine bange Ungewißheit, die leise Frage, ob die Greueltaten des 11. September nicht doch ihr Ziel erreicht haben. So viele Menschen, hier wie in Europa, scheinen aus schierer Angst um ihre Freiheit bereit zu sein, sie paradoxerweise einschränken zu lassen um einer trügerischen Sicherheit willen, und vertrauen sich den Predigern scheinbarer Stärke, simpler Lösungen und eindeutiger Feindbilder an. Viele Menschen haben den Haß, der die Terrorakte getrieben hat, in sich aufgenommen und sehen Feindliches schon in einer Sprache, einer Hautfarbe oder einer Religion. Die Welt ist mißtrauischer geworden, aggressiver und unmenschlicher, und das war von jeher die größte Bedrohung für die Freiheit. Größer als Terror, größer als religiöser oder politischer Fanatismus.

Die Dämmerung legt sich über New York; Lady Liberty entzündet ihre Fackel. Und ich hoffe still, daß sich gegen alle Versuchungen bewähren wird, wofür sie steht:

Unsere Freiheit.