Dienstag, 10. April 2012

Osterbegegnung

"Frohe Ostern!" ruft eine vertraute Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und stehe vor dem alten Mann, der mein Vater war.
"Dir auch!" antworte ich. Er umarmt mich. Es befremdet mich und dauert mir zu lange. Ich löse mich sanft. Dann entsteht eine kurze Pause.
"Geht es Dir gut? Bist Du gesund?" frage ich, denn das ist im Grunde alles, was mich interessiert. Ich wünsche dem alten Mann, der mein Vater war, nämlich von Herzen, daß es ihm gut geht.
"Ja, danke", antwortet er, "sehr gut geht es mir." Er hält inne. "Ich hätte so viel zu sagen", fährt er schließlich fort, "aber dafür reicht die Zeit wohl nicht aus. Wir müßten mal eine ganze Nacht lang reden."
"Dann sollten wir uns diese Gelegenheit schaffen", sage ich, "wenn Du das möchtest."
Insgeheim staune ich ein wenig über sein Bemühen. 15 Jahre hatten wir uns nichts zu sagen. Nun scheint ihm tatsächlich an einer Aussprache gelegen. Der alte Mann, der mein Vater war, scheint weiser geworden, ruhiger, versöhnlicher.
"Ich habe so viel nachgedacht", sagt er, "und es wurden sicher auf beiden Seiten Fehler gemacht."
Mein Erstaunen wächst. Solche Zugeständnisse bin ich nicht gewöhnt von dem alten Mann, der mein Vater war.
"Und ich habe mittlerweile erkannt", fährt er fort, und ich horche gespannt auf, "daß ich verdammt recht hatte!"
Ah. Jetzt erkenne ich ihn wieder. Nach all den Jahren ist sein Ansatz zu einem klärenden Gespräch, daß er recht hatte. Nun klingt der alte Mann wieder wie damals. Als er mein Vater war.
"Die Frage ist doch", sage ich langsam, bewußt nicht sofort auf seine Rechthaberei anspringend, "was wir zu gewinnen haben. Für mich jedenfalls funktioniert unser Verhältnis, so wie es ist, ganz gut..."
"Wir müssen einen Weg finden!" sagt er.
"Ich weiß nicht", erwidere ich, "es ist fraglos tragisch, wenn zwei Menschen sich durchaus nicht verstehen, besonders, wenn sie Vater und Sohn sind."
"Sehr tragisch!" betont er.
"Ja, ohne Frage. Aber man muß es irgendwann akzeptieren. Ich frage mich einfach, was gut für mich ist, und welcher Art von Gespräch oder Begegnung ich mich aussetzen möchte."
"Sag doch nicht immer nur 'ich' und 'für mich'", antwortet der alte Mann, der mein Vater war, fast etwas larmoyant, "das zeugt von einem so schlimmen Egoismus."
Hm, der Egoismusvorwurf mal wieder. Nun fehlt nur noch das Altersargument.
"Ich bin wahrlich kein egoistischer Mensch", sage ich und spüre, wie mein Staunen der üblichen Enttäuschung weicht, "aber ich habe, wie jeder Mensch, das Recht, mir für mein Leben sehr genau zu überlegen, was mir gut tut und was nicht, und Du hast mir eben sehr lange nicht gut getan."
"Allein schon diese Aussage!" sagt er, und seine Dramatik schwankt zwischen Wehklage und Vorwurf, "Du hattest so viele gute Jahre mit mir, und ich habe Dir alle Wege geebnet, alle Türen geöffnet und Dir alles ermöglicht, was man einem jungen Menschen ermöglichen kann!" Er seufzt tief und wendet sich halb ab. "Es war wohl doch ein Fehler, Dir heute nachzugehen..."
"Nun werd' mal nicht theatralisch", sage ich und spüre erstaunlicherweise nicht mehr wie früher die Versuchung in mir, die vielen Gemeinheiten, Machtspiele und Demütigungen aufzuzählen, von denen seine "Ermöglichungen" geprägt waren, "ich bin ja gar nicht gegen ein Gespräch! Ich frage mich nur, was wir zu gewinnen haben, wenn von vornherein feststeht, daß Du eh recht hattest."
"Man muß wohl doch älter werden", sagt er in schlecht inszenierter Erschütterung, "um das alles richtig sehen zu können!"
Das Alter. Da ist es.
"Ich bin fast 42 Jahre alt und habe auch schon einiges erlebt; ich bilde mir meine Sichtweise gewiß nicht aus jugendlichem Trotz." sage ich, und ich merke, wie das Gespräch mich zu belasten beginnt.
"Trotzdem", sagt er, "man muß noch älter werden."
Aha, denke ich.
"Aha." sage ich.
"Es war ein Fehler", sagt er leise, "mach's gut. Frohe Ostern." Er streckt mir die Hand hin und wendet sich halb zum Gehen. Das schlechte Gewissen, auf das diese Geste zielt, stellt sich indes nicht ein. Eher so etwas wie Wehmut.
"Dir auch!" sage ich. Ich lasse ihn gehen und wende mich meinerseits um. Gehe nach Hause.
Alles ist, wie es immer war. Er sieht sich im Recht. Es soll ihm gut gehen damit. Ich freue mich wirklich, wenn es dem alten Mann, der mein Vater war, gut geht. Er war schließlich mal mein Vater.