Ein Wüstentod
Heiß und trügerisch flimmerte die Luft über dem staubigen Wüstenboden, über den sich mit letzter
Kraft ein ausgetrockneter Mann dahinschleppte. Jeder Atemzug schmerzte, als
führe ihm eine glühend-scharfe Klinge durch die Nase bis in die Stirn
hinauf. Seine Füße brannten; die glitzernden, versandeten Blasen, die er sich
gelaufen hatte, peitschten mit jedem Schritt quälende Schmerzen in seine Schienbeine, und die
erbarmungslose Sonne versengte ihm vom gelblich-blauen Himmel herab den Nacken.
Den Gedanken an Wasser oder einfach nur an ein Wandern ohne Schmerzen hatte sein
kochendes Hirn längst verlernt. Allenfalls eine staubige, blasse Erinnerung
daran, daß es Leben und Landschaften, Seen, Felder und Bäume außerhalb der
Wüste gab, in der er schon so lange wanderte, stieg zuweilen in ihm auf wie ein
trockener Husten.
Kaum konnte er noch aus
den brennenden Augen schauen, als er in der Ferne eine Bewegung zu erkennen
glaubte. Tatsächlich, da ging ein Kamel. Nur ein paar hundert Meter weit
entfernt lief es gemächlich in die gleiche Richtung wie er. Und da war noch etwas.
Weiter weg, am Horizont, genau oberhalb des Kamels ging auf einer Anhöhe eine
Frau. Fast sah es aus, als verschmölzen beide Gestalten, ja als ritte eine
winzigkleine Frau auf einem riesigen Kamel. In Wirklichkeit, dachte der Mann dumpf,
müsse sie wohl etwa genausoweit von dem Kamel entfernt sein wie er. Nur auf der
anderen Seite. Doch verließ ihn dieser Gedanke sogleich für einen stärkeren: Reiten,
dachte er, nur ein kleines Stück sich tragen lassen, vielleicht sogar zu einer
Siedlung, einer Oase... oder wenigstens einer Höhle zum Sterben. Ein wenig nur die
Füße schonen. Auf dem Kamel sitzen, nur für ein paar Meilen. Oder für immer.
Er versuchte zu rufen.
Aber seiner Kehle entrang sich nur mehr ein Krächzen. Sofort
änderte das Kamel seine Richtung und lief auf den Mann zu, der sein Glück nicht fassen
konnte. Eine Woge von Kraft und Zuversicht durchflutete und berauschte ihn, die
alle Erschöpfung vergessen machte, und als das Kamel bei ihm ankam und sich
bereitwillig niederließ, wollte er schon aufsteigen. Doch das Bild der winzigen
Frau auf dem riesigen Kamel schob sich in seine Gedanken. Sie und das Kamel
gehörten zusammen! Wenn er es nun zu sich gerufen hatte, dann doch nur, um es
ihr zu schicken, es ihr zu schenken und gemeinsam weiterzureisen. Nein, er
konnte nicht alleine reiten. Wie hatte er das je glauben können? „Geh“, sagte
er heiser, „und hol sie. Laß sie reiten. Zu mir.“ Und das Kamel stand auf und
lief behende über den heißen Wüstenboden in Richtung der Frau.
Von Ferne sah er, wie es
bei ihr ankam. Es schien ihm, als lächelte sie kurz, und auch er lächelte, so
glücklich machte ihn diese Begegnung in der Wüste. Doch dann erstarb ihr
Lächeln; er konnte es spüren. Ihr Blick wurde streng und hochmütig, und er sah, wie sie das Kamel
fortschickte. Zurück zu ihm. Zurück in den Staub. Und treu und geduldig lief
das Kamel zurück.
„Nein“, rief er trocken,
„nicht zu mir! Zu ihr gehörst du! Komm, wir gehen gemeinsam!“ Und als er die
Frau von Ferne wieder lächeln und winken sah, führte er das Kamel in ihre Richtung
zurück, Schritt für Schritt, und aller Schmerz wich von ihm. Die Füße trugen
ihn sicher, und das Atmen der heißen Luft fiel ihm plötzlich leicht.
Sie kamen der Frau immer
näher, und mit jedem Schritt wurde ihr Lächeln ein wenig starrer. "Schau doch", sagte er zu ihr, "du kannst mit mir reiten! Sicher und bequem, fort aus dieser Wüste!" Doch als er
ihr das Kamel übergeben wollte, huschte ein Ausdruck von Angst durch ihre Augen,
der sofort kalter Ablehnung wich, und abermals erstarb ihr Lächeln.
„Verschwinde!“ rief sie. „Ich will nicht mit dir reiten. Nimm dein blödes Kamel
und such dir eine andere Reisebegleitung!“ Und mit dem Fuß trat sie ihm eine
Wolke heißen Staubs ins Gesicht. Mehr als der Staub aber brannte die
Verachtung, die er von ihr erfuhr, und eine verzweifelte Ratlosigkeit, was er
wohl falsch gemacht hatte, ergriff sein Herz. Doch er ging, wie ihm geheißen.
Nach ein paar hundert
Metern drehte er sich um und sah – er rieb sich die Augen – ja, wirklich, er
sah, wie sie einen anderen Mann auf dem Rücken trug. Sie lachte künstlich.
Vielleicht glaubte sie, zu reiten, vielleicht dachte sie auch nur, für ihn
müsse es aus der Ferne in der flimmernden Luft, die alle Wesen verschmelzen
läßt, so aussehen… aber tatsächlich war sie es, die sich reiten ließ, von jenem anderen Mann, der ihr kein Kamel anbot, sondern sie wie eins benutzte, mitten in
der heißen Wüste. Und sie lachte dabei und schaute spöttisch zu ihm herüber. Wut
und Trauer stiegen in ihm auf, und hätte er noch weinen können, wären ihm gewiß
die Tränen gekommen. Aber es war zu heiß, zu tot, zu trocken in ihm. Und so
wandte er sich ab.
„Hallo!“ hörte er sie
hinter sich rufen und drehte sich um. Der andere Mann war weg. Hatte es ihn je gegeben? Die Frau
lächelte wieder, aber diesmal schwach und traurig. „Hallo!“ rief sie wieder.
Und Mitleid und Liebe ergriffen sein Herz. Er schwang sich auf das Kamel,
diesmal ganz sicher, endgültig zu ihr zu finden, und ritt auf sie zu. Doch
abermals wurde ihr Lächeln härter und kälter, je näher er ihr kam, und als er
fast bei ihr angelangt war, begann sie ihn anzuschreien: „Ich sagte doch, ich
werde nicht mit dir reiten! Hau endlich ab und hör auf, mich zu belästigen!“
Und mit einem kleinen Messer stach sie dem Kamel in die Seite, ins Bein und in
den Hals und verletzte es in ihrer blinden Wut sehr schwer. Fassungslos und
voller Entsetzen und Ekel drehte der Mann das Kamel herum und trieb es zur
Flucht an, weg, nur weg von dieser Frau, ihrer Unberechenbarkeit, ihrem Undank,
ihren dummen Launen und ihren anderen Gestalten.
Das Kamel hinkte. Eine
tiefe Wunde klaffte an seiner Seite, und heißes Blut tropfte auf den
Wüstenboden. Immer noch flimmerte die Luft vor sengender Hitze, die Sonne
brannte, und das Atmen fiel dem Mann schwer wie nie. Die Wüste hatte nun den
Höhepunkt ihrer glühenden, höllischen Grausamkeit erreicht. Und als ihm eben
die Sinne vergehen wollten vor Durst, Schmerz und Trauer, glaubte er, in der
Ferne eine Stimme zu hören.
„Hallo!“ rief die Frau
leise. Er wandte sich um, und in diesem Moment knickte das verletzte Kamel ein.
„Nein“, krächzte er, „nein“… und wollte weiterreiten, doch das Kamel war am
Ende seiner Kräfte. „Ich tue dir nichts“, sagte die Frau, „ich weiß, ich war
gemein, aber jetzt will ich gern mit dir reiten! Ich wollte es doch im Grunde
immer schon. So gern... aber weißt du, Kamele sind groß, mächtig und stark. Eins von ihnen hat mir mal sehr wehgetan. Daher fürchte ich sie und schickte deins immer wieder fort.“ Und sie stolperte auf den Mann und das Kamel zu, das nun
zusammengesunken am Wüstenboden lag. Den Mann aber überwältigte in diesem
Moment ein berauschendes Bild von kristallklarem Wasser in einem glitzernden
See, an dessen Ufern die saftigsten Früchte wuchsen. Die fruchtbaren Felder
trugen satte Ernte, und im warmen Sonnenschein kitzelte ein duftender Windhauch
die Nasen der Menschen. Alles Glück schien wahr, jeder Traum erfüllt an diesem
Ort, und Schmerz und Leid waren vergessen. Und mittendrin sah er sich und die
Frau stark, schön und strahlend auf dem Kamel zu ihrem Haus am See reiten, das
weiß in der Sonne leuchtete. „Ja“, hauchte er mit letzter Stimme, „reiten wir.
Zusammen. Siehst du auch… da… unser Haus. Den See. Die grünen Bäume… reiten wir
ins Glück…“ „Ja, ins Glück“, antwortete sie und setzte sich zu ihm auf das
Kamel, gerade über die klaffende Wunde. Das Tier schrie vor Schmerz auf, dann
krachte sein Kopf auf den Wüstensand, und seine dunklen, treuen Augen wurden glasig. Es
war tot.
„Wir reiten“ … „für
immer“ … „zusammen“ … „ins Glück“ Solche Fetzen stammelnd lagen der Mann und
die Frau auf dem toten Kamel, beide mit dem berauschenden Bild im Kopf vom
glitzernden See, dem weiß leuchtenden Haus, den grünen Bäumen und den satten
Feldern. Bis die sengende Sonne auch ihnen das Leben ausgebrannt hatte und sie
dem heißen Wüstenstaub überließ.