oder: Warum wir Schubladen brauchen.
Es gibt viele Versteher heutzutage. Ständig bringt irgendjemand für irgendetwas Verständnis auf oder fordert es von anderen ein. Von Putin bis Pädophilie, von Trump bis Terrorismus – jedes noch so absurde Phänomen, jede Caprice, jeder Egoismus, jede Unmenschlichkeit wird von irgendjemandem irgendwie begründet und damit verstanden. So weit, so gut. Dieses „Verstehen“ ergibt jedoch nur dann Sinn, wenn es sich denn tatsächlich um ein neutrales, rein kausalanalytisches Verstehen handelt, denn nur das kann zu einer ausgewogenen Beurteilung führen. Aber mit dem vordergründig so intellektuell klingenden Begriff „verstehen“ ist oft nichts anderes gemeint als „verzeihen“.
Vollziehen wir doch als Beispiel endlich die neulich irgendwo geforderte 180-Grad-Wende der Erinnerungskultur: verstehen wir Hitler!
Hitler verdankte seinen Aufstieg einer desaströsen Ausgangslage – das Land lag am Boden, Millionen Menschen waren arbeitslos, Reparationszahlungen und die Weltwirtschaftskrise drückten jeden Aufschwung nieder, und obendrein lastete mit dem verlorenen Krieg, dem als "Diktat" empfundenen Vertrag von Versailles und den Gebietsverlusten eine gewaltige Demütigung auf der, nennen wir es ausnahmsweise mal: Volksseele. „Kann man verstehen, oder?" Und schon hat sich ein Gedanke festgesetzt: "Also war das mit dem Hitler ja wohl gar nicht so schlimm.“
Man sieht – bei diesem "Verstehen" geht es nicht ums Begreifen, sondern um Legitimation. Die Verquickung von Verstehen und Verzeihen ist brandgefährlich, weil sie ethische Grundsätze aufweicht und die Kategorien von gut und böse, richtig und falsch relativiert, an denen sich nun mal jedes soziale Gefüge festmacht. Die Begründbarkeit wird zum Rechtfertigungsgrund erhoben; die Frage nach der Schuldhaftigkeit hingegen komplett ausgeblendet. In der Folge entsteht der Eindruck, es gäbe eigentlich nichts Unverzeihliches, solange es sich nur irgendwie „verstehen“, sprich: kausal herleiten läßt – ein mehr als fatales Signal für das Selbstverständnis radikaler politischer Kräfte.
Zugleich ist die Terminologie perfide: Denn wer eine Ansicht nicht teilt, dem läßt sich nun vorwerfen, er bemühe sich nicht ausreichend um „Verständnis“ (ein extrem positiv besetzter Begriff) und denke in „Schubladen“ (ein außerordentlich negativ besetzter Begriff). So wird eine Seite des Diskurses von Anfang an moralisch abgewertet. Zudem gilt das weitgehende Verständnis allermeistens nur den Positionen, die man selbst vertritt und schützt, und endet sehr abrupt da, wo der eigenen Meinung nicht ent- oder gar widersprochen wird. Die prinzipiellen Kategorien von gut und böse, die zuvor um eines relativierenden Verstehens willen abgeschafft wurden, werden nun ersetzt durch ein ideologisiertes und damit rein subjektives Recht oder Unrecht haben.
Ohne einen paradigmatischen Konsens sind jedoch den Frieden und Freiheit nicht möglich. Ob es uns gefällt oder nicht – wir brauchen Schubladen, ein axiomatisches System unverhandelbarer Werte also, innerhalb dessen Verhaltensweisen als objektiv richtig oder falsch definiert werden dürfen, und das es uns erlaubt, manches eben nur analytisch, nicht jedoch rechtfertigend oder entschuldigend „verstehen“ zu müssen, sondern prinzipiell zu ächten – Krieg, Mord, Extremismus, Lüge, Unterdrückung, Ausgrenzung, Tyrannei und Diktatur.
Wer dieses Koordinatensystem aufgibt, weil es scheinbar menschlicher erscheint, für alles Verständnis zu haben und mit jedem über alles zu reden, begibt sich einer klaren Haltung gegen das Unrecht und hat dem brutalen, rücksichtslosen Machtstreben, das die Welt an allen Ecken und Enden ins Unglück reißt, nichts entgegenzusetzen.