Allzu gern wird die heutzutage so ungemein populäre Suche nach dem Selbst mit der Suche nach einem Stärkegefühl verwechselt. Die für insuffizient gehaltenen, in Wirklichkeit aber so wichtigen Eigenschaften des eigenen Wesens wie etwa Sensibilität, Verletzlichkeit, Angst und Sehnsucht zu verdrängen und mit kühl lächelndem Hochmut oder einem oberflächlichen Leben zu überspielen, mag verlockend sein, führt jedoch gerade nicht zu einer umfassenden Selbsterkenntnis, zur Erkenntnis also all dessen, was man ist und was man hat, sondern zum genauen Gegenteil. Denn indem man sich seinen zentralen Persönlichkeitsmerkmalen verschließt und sie verdrängt und leugnet, weil man Angst vor ihren Folgen und Auswirkungen im täglichen Leben hat, verliert man sich, anstatt sich zu finden.
Das Durchschnittliche gibt der Welt – und auch dem einzelnen Menschen – den Bestand, das ist wohl wahr, und an sich selbst durchschnittliche, massentaugliche Eigenschaften zu kultivieren, auch wenn sie nicht der eigenen Persönlichkeit entsprechen, ist zuweilen leicht und bequem. Selbsterkenntnis und Identität ergeben sich jedoch nicht aus dem, was man sein WILL, denn dann wären sie lediglich SelbstERfindung. Sie ergeben sich aus dem, was man IST, ob es einem paßt oder nicht.
Und auch das reicht noch nicht aus, ein echtes, lebendiges Selbstgefühl zu entwickeln. Denn solange die Eigenschaften des Charakters nur erkannt, nicht aber auch akzeptiert und gelebt werden, bleiben sie eine unbefriedigende Theorie. Das echte, lebendige Selbst ergibt sich erst daraus, wie diese unsere ureigensten Eigenschaften innerhalb anderer, externer Lebensbereiche wirken und funktionieren, denn erst die Beziehungen, auf die wir uns einlassen, und die Zusammenhänge, in die wir uns stellen, geben ihnen (und also uns) eine Form und eine wahrnehmbare Gestalt. Die Eigenschaften, zu denen wir uns bekennen, unsere von uns selbst akzeptierte und ins Leben hinausgetragene Identität ist Außerordentliche an uns, das der Welt und dem Leben Wert gibt.