Samstag, 28. Juli 2012

Meeresrausch

Ich habe es lange nicht gesehen, das Meer, doch nun, da ich, die nackten Füße im feuchten Sand, meinen Blick darein versenke, wie es gierig an der Küste leckt, verführt mich seine grüne Tiefe zu verwegensten Gedanken, und das Gleichmaß seines kraftvollen Drängens berauscht meine Sinne.

Vermißt habe ich es, das Meer und seinen rücksichtslosen Egoismus, mit dem es nicht wirbt und buhlt, sondern nimmt. Zuweilen bewundere und beneide ich diese meinem Wesen so ganz und gar fremden Eigenschaften und wünschte mir, weniger geworben und gebuhlt, berücksichtigt und geschont und stattdessen mehr genommen zu haben. Denn mein Werben und meine Rücksicht haben mich immer dann besonders lächerlich gemacht, wenn sie meinen sehnlichsten Zielen galten.

Zugleich empört es mich, das Meer, denn in seinem hartnäckigen Drängen liegt soviel Brutalität und Kompromißlosigkeit, daß mir sein Treiben nur gierig, triebhaft und geistlos, und in keiner Weise liebevoll vorkommt. Manchmal scheint es den Strand mit verspielt gekräuselten kleinen Wellen zu küssen, aber schon im nächsten Moment, als ob ihm die Zärtlichkeiten nicht mehr genügen, penetriert es ihn mit gewaltigen Brechern, und nichts bleibt dem Land, als die rohe Lust des Meeres über sich ergehen zu lassen.

Es zieht mich an, das Meer, in seiner Grobheit, seiner düsteren Gewalt. Es fasziniert mich, weil ich es erkenne, es verstehe, ohne selbst so sein zu können. Das Meer bekommt, was es will. Drängend, nehmend. Und was es hat, verschlingt und vernichtet es, macht es zum Teil seiner selbst, um sich noch mehr von dem zu nehmen, was es noch nicht hat.

Ich bin nicht wie das Meer. Konnte nie so sein. Wollte es auch nicht. Gebannt und wehrlos sehe ich zu, wie es sich Befriedigung verschafft und zugleich die Saat der Liebe, die ich an Land ausgestreut habe, achtlos davonspült. Seine grüne Tiefe verführt mich zu verwegensten Gedanken, derer ich keinen einzigen je werde umsetzen können.