Samstag, 7. Juli 2012

Sepia

Ich sitze neben einer Melange auf einem Korbstuhl vor dem Rathaus, die Beine übergeschlagen, einen Arm lässig auf der Lehne abgelegt, weil man das hier so macht - lässig ist man; es paßt zu mir - und schaue durch braungetönte Brillengläser in einen strahlend blauen Sepiahimmel. Schmeichelhaft ist dieser Ton; er macht alles warm und weich. Den Himmel, das Rathaus, die leise rauschenden Bäume, den Asphalt des Platzes sogar. Er macht mich ganz ruhig. Eine Beruhigungsbrille ist es, die ich da trage. Man kann meine Augen sehen, aber nicht zu tief hineinschauen. Lässig läßt es sich so sitzen mit dieser Brille. Denn so macht man es hier schließlich.

Mädchen in leichten Sommerkleidern schlendern an mir vorbei, aber ansehen tut mich niemand, schon eine Weile nicht mehr. Ich habe meine Anziehungskraft verloren, bin unsichtbar geworden in dieser Stadt, die mich nie aufgenommen hat, gleich, wie sehr ich um ihre Gunst gebuhlt habe. Solange ich buhlte, sah man mich an. Aber ich suche keine Gunst mehr. Nicht die der Stadt, und auch nicht die der Mädchen. Und so sitze ich nicht eigentlich lässig hier, wie man es eben macht; das Wort trifft es nicht ganz. Eher gelassen. Gelassen von der eigenen Leine, an der ich mich führte, während ich buhlte. Gelassen aus dem würgenden Griff meiner rastlosen Gier.

Ich sehe sie an, die schlendernden Mädchen in ihren leichten Sommerkleidern, sehe durch meine Beruhigungsbrille ihren federnden Gang, ihre schlanken, nackten Arme, bei deren Anblick ich früher die übergeschlagenen Beine ein wenig aufeinander gepreßt hätte, um meine Erregung deutlicher zu spüren, und ihr unbeschwertes Lachen. Sehe es ohne Gier. Ohne den Drang zu buhlen. Gelassen.

Als ich damals in diese Stadt kam, die mich nie aufgenommen hat, wähnte ich mich frei. Frei von allem, was ich hinter mir gelassen hatte, frei von allen Zwängen und Engen, die mein altes Leben um mich zu legen begonnen hatte, und diese Freiheit, die auch immer ein wenig eine Leere ist, füllte ich eine Weile lang mit der gierigen Jagd nach allem, was neu und anders war als das, was ich zurückgelassen hatte. Grün waren meine Sonnenbrillengläser damals, und mein Blick zuckte suchend und buhlend hinter ihnen herum, um in der grünen Stadt irgendeinen Halt zu finden. Aber was dieser Blick auch erfaßte, entglitt ihm bald wieder und versank schweigend und kühl im grünen Asphalt. Es war, als lockte die Stadt, die mich nie aufgenommen hat, mein Bemühen nur zu dem einen Zweck hervor, es zu enttäuschen. Und gedüngt von dieser Enttäuschung wuchsen meiner Gier immer mehr Tentakel, die immer schneller in immer mehr Richtungen grabschten, um einen immer beliebigeren Halt zu finden. Sie umzappelten mich so wild, daß ich mich darin versponn und meine Gier mir den Atem nahm, sogar den zum Buhlen, während die grüne Stadt um mich herum ihren federnden Gang ging und unbeschwert lachte, lässig, so wie man es hier eben macht.

Und dann wurde es schattig. Jemand trat vor mich, verdeckte die Sonne und nahm mir die grüne Brille ab. Nahm sie und trat einen Schritt zurück. Und wie ein Kuß aus Feuer stach die Sonne tief in meinen Kopf, und die Tentakel erlahmten. Sie fielen von mir ab, und ich begann zu atmen. Klare, ungefärbte sonnige Erkenntnis. Und noch ehe mir klar wurde, daß meine Welt eine andere Farbe brauchte, hatte ich wie durch ein Wunder die Beruhigungsbrille auf, und die grüne Stadt wurde sepiabraun. Warm und weich. Und mein Blick auf all das Schlendern und Lachen und Rauschen um mich herum wurde gelassen.

So sitze ich hier neben einer Melange auf einem Korbstuhl vor dem Rathaus, die Beine übergeschlagen, einen Arm gelassen auf der Lehne abgelegt, und schaue durch braungetönte Brillengläser in einen strahlend blauen Sepiahimmel.