Mittwoch, 12. Oktober 2016

Klarer Standpunkt

„Biete eine klare Meinung“, sagte mir kürzlich eine sehr erfolgreiche Publizistin, „nimm einen Standpunkt ein und mach’ eine klare Aussage. Immer nur zu differenzieren schafft kein erkennbares Profil.“ Ich hatte sie gefragt, wie man Aufmerksamkeit, Reichweite und einen Platz in den Leitmedien bekommt, und das war ihre Antwort.

Also gut.

Dann mache ich mal ein paar klare, undifferenzierte Aussagen: Ich finde den Islam ätzend, und den Koran-verteilenden Fusselbärten in deutschen Fußgängerzonen will ich spontan ihre ausgestreckten Zeigefinger brechen. Genau so wie ich den „Kein Krieg mit Russland“-Putin-Trollen am liebsten eine knallen würde. Alte Menschen, die an der Kasse ihr Kleingeld zählen, nerven mich kolossal, ebenso wie diese Rollstuhlfahrer, die einem extra in die Hacken fahren, um der ganzen Welt böswillige Behindertenfeindlichkeit nachzuweisen. Ich finde Asylbewerber meistens häßlich, hege Folterphantasien gegen Kinderschänder und kann fette Menschen und Raucher nicht leiden. Grölender Pöbel ekelt mich an, ob er türkische oder deutsche Flaggen schwenkt, und viehische Dummheit reizt mich bis aufs Blut. Die arabische Sprache erregt bei mir den Reflex, jedem Sprecher eine aufs Maul zu hauen, einfach wegen dieser beschissenen IS-Bekennervideos, genau, wie mir jede einzelne glutäugige Terroristenvisage ganze Völker unsympathisch macht. Sogenannte „Funktionskleidung“ läßt mich würgen, und wenn ich morgens in der U-Bahn schon Schweiß riechen muß, kommen Amoklauftagträume auf. Gendersprache halte ich für Schwachsinn und politische Korrektheit für einen Todfeind des Humors. Und ja, manchmal sehe ich Frauen ausschließlich unter sexuellen Gesichtspunkten an, weil sie halt scharf sind. Alles ganz spontan und aus dem Bauch raus. 

Klar genug?

Vermutlich. Aber sind das wirklich Meinungen? Vertretbare Standpunkte? Nein. Das sind Triebe, primitive Reflexe meines Stammhirns, das nur Kampf oder Flucht kennt. Und die gibt's halt. Ob wir es wahr haben wollen oder nicht: das Tierische in uns ist zutiefst menschlich. Die spontane Aggression und das tiefe Mißtrauen gegen alles Artfremde steckt in uns und ist Teil unserer Natur. Diese  evolutionär verankerten Reflexe wegleugnen zu wollen, ist Unfug. Noch größerer Unfug ist es jedoch, diese Urinstinkte zur Grundlage einer Meinungsbildung zu machen.

Denn Instinkt ist eben keine Meinung. Zusätzlich zu unserer tierischen Natur besitzen wir eine menschliche Kultur. Anders als das Tier in uns verfügen wir über Mitgefühl, Anstand und ein Gewissen. Man darf wohl also verlangen, unsere Meinungsbildung nicht beim animalischen Reflex enden zu lassen (so wie es im politischen Diskurs und ganz besonders auf Facebook Tag für Tag geschieht). Vielmehr gilt es, dem pauschalisierenden Instinkt unseren differenzierenden Verstand, dem Abwehrreflex unsere kulturellen Überzeugungen und Werte entgegenzusetzen: Würde, Respekt, Gleichberechtigung, Toleranz und Mitgefühl. Ich erwarte also von mir selbst die Differenzierung zwischen meinen Stammhirnreflexen, meiner persönlichen Ästhetik und der Toleranz, die ich aus kultureller und humanistischer Überzeugung jedem Menschen schulde.

Es spielt somit keine Rolle, ob ich persönlich etwa Schwulsein für gut halte – ich akzeptiere es einfach als Lebensentwurf und freue mich über die Freiheit für jeden, so zu leben wie er will. Auch muß ich Asylbewerber nicht plötzlich hübsch finden - ich muß sie respektieren, mit Würde behandeln und ihnen grundsätzlich das gleiche Lebens- und Glücksrecht wie mir selbst zugestehen. Ich möchte Menschen als Individuen wahrnehmen, und nicht als kollektiv verdächtige Mitglieder irgendeiner einer Gruppe. Schon aus meinem Gewissen, aus meiner Empathie und meiner ethisch-moralischen Überzeugung heraus, die das Stammhirn eben nicht kennt, könnte ich also niemals Rassist oder gegen Schwule oder sonst irgendwie radikal sein. Warum auch?

Erst in der Differenzierung liegt für mich der Schlüssel zur Gerechtigkeit; genau diese Differenzierung zwischen meinen eigenen verschiedenen Wahrnehmungs- und Beurteilungsebenen ist für mich die einzig akzeptable, menschliche Art der Meinungsbildung. Und so schreibe ich eben auch.

Ob mich das Reichweite kostet? Klar, wer (wie etwa ein gewisses AfD-Männchen) laut und brutal ans Stammhirn appelliert, wird auf dieser sehr primitiven Wirkungsebene viele Menschen erreichen, denn jeder hat diese Instinkte und kann sie daher verstehen - besonders die schlichteren Gemüter, die ihrem inneren Vieh mental näher sind als dem Kulturmenschen. Wichtig und verantwortungsvoll ist es indes, die spontane Reaktion mittels einer durchdachten, einer menschlichen zu relativieren. Für diese Überzeugung nehme ich gern in Kauf, daß meine Leserschaft ein bißchen kleiner bleibt.

Denn genau das ist mein Standpunkt.


P.S.: Die Publizistin, die mir den obigen Rat gab, argumentiert übrigens gut und unterhaltsam und verdient fraglos ihren Erfolg. Aber so entschlossen wie sie vermag ich selbst eben die meisten Themen nicht zu sehen. Trotzdem danke für den gedanklichen Anstoß!