Dienstag, 17. August 2010

Ein Lied in allen Dingen

Momentweise habe ich sie noch, jene intensive Weltwahrnehmung, die mir als Kind ganz alltäglich war. Alles schien mir damals beseelt, das Wesen eines jeden Gegenstandes, jeden Ortes und jeden Geschehens spürbar.

Sachen, die von Menschen gemacht wurden, enthielten für mich ohnehin stets ein Stückchen des schöpferischen Geistes und der handwerklichen Hingabe, die jemand darauf verwendet hatte, aber auch natürliche Dinge wie heruntergefallene Äste oder Steine am Wegesrand erschienen mir von einem universellen, göttlichen Geist durchdrungen, der alles zusammenhielt und allem Sinn gab. Das Welken eines braunen Blattes etwa, das im Herbst zu Boden gefallen war, erschien mir edel, weil es damit erstens einem höheren lebenszyklischen Sinn diente, und sich zweitens obendrein bemühte, zu jener wundervollen Herbststimmung beizutragen, die ich so liebte. Ich konnte all das spüren, und still dankte ich dem Blatt für sein rührend-schönes Opfer.

Wenn ich auf einem Spaziergang einen Stock aufsammelte, um eine Weile damit zu gehen oder zu spielen, war ich schon nach Minuten nicht mehr imstande, ihn wieder wegzuwerfen, nicht etwa, weil ich ihn unbedingt hätte haben wollen - meistens wurde er mir sogar recht bald lästig - sondern weil ich eine weltgeistige Beziehung zu ihm entwickelt hatte und vermutete, daß dies irgendwie, und sei es auf einer höheren Ebene, auch umgekehrt der Fall sei, daß also der Stock, nachdem er mit mir in Berührung gekommen war und mich ein Stück Weges begleitet hatte, nicht mehr nur ein beliebiges Stück Holz war, das sich beim Wegwerfen sogleich wieder in den Waldboden einfügen würde, sondern mich vielmehr "vermissen" und sich verstoßen fühlen werde.

Heute ist meine Weltwahrnehmung natürlich ein wenig abgestumpft, und die kindliche Vorstellung davon, daß alles lebt und fühlt und denkt, ja daß man nur ein Zauberwort zu treffen habe, um die Welt zum singen zu bringen, ist einer etwas pragmatischeren Sicht der Dinge gewichen. Und dennoch ertappe ich mich dabei, mich von vielen Dingen nicht trennen zu wollen, weil sie mir "leid tun", oder mich bei einem Hotelzimmer zu verabschieden und für die Beherbergung zu bedanken, wenn ich es mit gepackten Koffern verlasse...

Ich lächele dann meist über mich selbst, über das Kind in mir. Es ist schon ein wenig exzentrisch. Aber ganz verlieren möchte ich den Glauben an die Beseeltheit der Welt denn doch nicht.