Neulich wollte jemand, der gerade mit einer bestimmten Lebenslage haderte, von mir wissen, ob man nicht einen Teil seines Herzens zu Eis mache, wenn man sich angewöhne, nicht immer alles verstehen zu müssen.
Nun - schon die Frage ist irreführend. Denn man gewöhnt sich das Nichtverstehenmüssen ja gar nicht an. Vielmehr akzeptiert man lediglich die Tatsache, daß man ohnehin nicht alles verstehen kann. Das Leben ist hochkomplex, und die Menschen sind nun mal verschieden. Kaum ein Verhalten folgt einer Logik, und wenn doch, dann einer sehr individuellen, die von ganz persönlichen Erfahrungen geprägt und damit für andere nicht nachvollziehbar ist.
Dabei ist der Drang, alles verstehen zu wollen, durchaus nachvollziehbar. Man möchte das Leben verstehen, um es zu ertragen. Denn an sich ist es ja eine Zumutung! Man wird ungefragt auf die Welt geworfen, und je älter man wird, desto mehr Aufgaben und Probleme stellen sich. Wir rackern uns ab, suchen nach dem Sinn und wünschen uns ein Stückchen Glück. Den Sinn glauben wir nur zu finden, wenn wir alles, was geschieht, irgendwie begründen können. Das Leben aber verläuft nicht anhand starrer Muster, sondern wabert herum und nimmt oft unberechenbare Wendungen, die uns enttäuschen oder verletzen, weil sie unserer Denk- und Erwartungslogik nicht entsprechen. Und genau so verhalten sich die Menschen. Damit kann man hadern – oder man kann es akzeptieren und in jedem Rückschlag eine Chance auf positive Veränderung sehen. Und schon ist man dem Sinn des Lebens und dem Glück ein Stückchen näher.
Wenn wir also akzeptieren, daß Menschen immer wieder auf eine uns absolut nicht erklärbare Weise handeln, dann vereisen wir nicht unser Herz, sondern wir erwärmen es sogar mit einer großmütigen, verständigen Toleranz gegenüber dem unsagbar menschlichen Faktum, daß nun mal einjeder anders tickt und nicht zwingend unseren Erwartungen entsprechen muß. Nicht alles verstehen zu müssen wird somit zu einer höheren Stufe der Menschlichkeit.