Sonntag, 24. Oktober 2010

Leseprobe...

(...aus meiner neuesten Novelle, die leider noch keinen Titel hat und auch noch nicht lektoriert ist, aber ich stelle sie dennoch mal hier ein und bin gespannt auf Eure Rückmeldungen!)

Sie schrieben sich jeden Tag, mehrfach sogar, verlegten sich irgendwann auf das noch direktere Chatten und verbrachten auf diese Weise oft Stunden miteinander. Bald begann Karin, auch von ihren relativ zahlreichen Affären und Beziehungsversuchen zu erzählen, die meist ebenso kurz wie schmerzhaft waren, weil sie sich schon beim ersten oder zweiten Treffen auf Intimitäten einließ, lange also bevor sie wirklich etwas über den derart Privilegierten und seine Absichten wußte, und somit die Einschlägigkeit der Interessen immer wieder unterschätzte, die ihr die meisten ihrer Männerbekanntschaften entgegenbrachten. Für Gabelsdorf war das durchaus anregend. Sein eigenes Liebesleben war nach vierzehn Jahren Beziehung mehr als dürftig, und über Erinnerungen, von denen er hätte zehren, über einen Schatz an Erfahrungen, die ihm das saturierende Gefühl hätten geben können, seinen gerechten Anteil an dieser unendlich weiten Erlebniswelt gehabt zu haben, verfügte er so gut wie nicht, da er in seiner Jugend das war, was man einen Spätzünder nennt, und die Beziehung mit seiner späteren Frau sehr jung begonnen hatte. Der Mangel an Erfahrung und Befriedigung auf erotischem Gebiet, den er bislang mehr schlecht als recht sublimiert hatte, stand dabei in einem zunehmend gespannten Verhältnis zu seiner doch recht ausgeprägten Libido, und so boten ihm Karins Erzählungen von spontanen Abenteuern und Wochenendaffären reichlich Stoff für sein gieriges Kopfkino. Gleichwohl übte er sich ihr gegenüber in äußerster Zurückhaltung, ließ sie sogar beiläufig wissen, daß er verheiratet sei, und hörte ihren Geschichten mit freundschaftlichem Interesse zu. Er tröstete sie, wenn sie traurig war, kritisierte ihre impulsive und viel zu unüberlegte Art, sich auf Männer einzulassen, die sie dann verletzten, redete wohlmeinend auf sie ein oder ließ sie einfach ihr Herz ausschütten, je nach dem, was sie gerade brauchte, kurz: Er war ein Musterbeispiel an Ritterlichkeit, jederzeit für sie da und auf behutsam-strenge Weise verständnisvoll.
Und sie nahm es dankbar an.
Zugleich ertappte sich Gabelsdorf immer häufiger dabei, ungeduldig auf Nachricht zu warten, wenn Karin gerade nicht an ihrem Rechner war. Die schriftlichen Dialoge mit ihr wurden zum Hauptgegenstand seiner Aufmerksamkeit, und je mehr er sich auf den Austausch mit Karin Abild einließ, desto schwieriger wurde es, seine Frau nichts davon merken zu lassen, welch großen Raum die ferne Sängerin in seinem Denken und Fühlen mittlerweile einnahm. Nicht, daß er sich verliebt hätte. Aber Karin erschloß ihm Lebensbereiche, von denen er sich hochgradig angezogen fühlte, die jedoch in seinem Alltag so gut wie nicht vorkamen – Kunst und Impulsivität, Sex und Lust, Freiheit, Ungebundenheit, Ausdruck und Leidenschaft... Sie erlebte, erfuhr und erlitt alles, was Gabelsdorfs eigenem gleichförmigen Dasein abging.