Mittwoch, 30. Juni 2010

Mondgeschichte

(Für Dich, Engelchen - wie versprochen)

Voll und groß stand der Mond über Wien und tauchte Straßen, Plätze und Häuser in ein silbermattes Licht. So nah hielt er sein kraternarbiges Gesicht über die Stadt, daß man danach greifen mochte, und mit dem sanften Blick weiser Welterfahrenheit sah er dem Wind zu, der durch die Gassen wehte.

Dieser schien heute besonders ungehalten. Er rauschte in den Bäumen, rüttelte an den Fensterläden, riß an den Markisen, trieb in wilder Hetzjagd ein paar alte Zeitungen vor sich her und heulte an jeder Hausecke erbärmlich auf. Als er eine besonders starke Böe durch die Gumpendorfer Straße blies, flog ein Engelchen, das auf der Nummer 131 im Mondlicht gesessen hatte, gerade noch rechtzeitig davon, sonst wäre es einfach fortgeweht worden.

Der Mond sah sich das Treiben des Windes eine Weile an. Dann fragte er ihn:
"Was tust Du denn da? Warum bist Du so wild?"
"Ach", antwortete der Wind und warf beiläufig einen Sonnenschirm um, "ich bin traurig und verzweifelt."
"Warum denn das?", fragte der Mond.
"Ehrlich gesagt - weil ich Dich beneide!", entgegnete der Wind.
Nun war der Mond doch etwas erstaunt.
"Du beneidest mich? Worum denn bloß??", fragte er.
"Naja, schau", sagte der Wind, "Du stehst so stark und sicher am Himmel, so ruhig und stolz, und tauchst die ganze Welt in ein so zauberhaftes Licht, daß Menschen zu träumen, Dichter zu schreiben und Liebende sich zu küssen beginnen... Ich hingegen vermag nichts zu tun, was Herzen berührt."

Der Mond dachte eine Weile schweigend nach. Dann entgegnete er ruhig und besonnen:
"Ja, ich glaube, ich verstehe, was Du meinst. Und wenn Du schon so offen bist, dann will ich Dir gern bekennen, daß auch ich Dich zuweilen beneide. Denn so voll und stark stehe ich nur wenige Tage des Monats am Himmel. Den Rest der Zeit muß ich darauf verwenden, geduldig zu wachsen oder schmerzhaft zu schrumpfen. Das Licht, mit dem ich die Erde beleuchte, ist nicht einmal mein eigenes; ich muß es mir leihen und darf es lediglich weiterschicken. Und wenn es ein paar schwächlichen Wolken gefällt, mich einzuhüllen, ist meine Wirkung dahin.
Du hingegen bewegst etwas! Durch Deine Kraft blähst Du die Segel der Schiffe, die um die Erde fahren. Du treibst die Mühlen, in denen Korn zu Mehl gemahlen wird. Du trägst den Samen der Pflanzen übers Land und hälst es fruchtbar. Und schließlich läßt Du an festlichen Tagen bunte Fahnen flattern und erfreust damit die Menschen. All dies ist gut und wichtig, und ohne Dich wäre das Leben viel schwerer. Ich erfreue die Sinne und bin doch sinnlos. Du aber schaffst die Grundlagen des Lebens."

So sprach der Mond, und der Wind hielt inne, um ihm zuzuhören. Dann schwiegen beide lange. In die Stille hinein meldete sich plötzlich das Engelchen zu Wort, das inzwischen an seinen Platz zurückgekehrt war:
"Ihr habt natürlich beide recht", sagte es, "und so hat eben einjeder seinen Zweck. Der Dichter braucht das Mondlicht, und der Müller den Wind. Neidet einander nicht die Wirkung, sondern seid froh und eifrig dabei, Eure Aufgabe zu erfüllen, so gut Ihr es vermögt. Denn das Ganze lebt von der Vielfalt, und jeder muß tun, was er kann."

Das sahen sie ein, und fürderhin schien der Mond ebenso gern und neidlos, wie der Wind wehte.