Suchende, irrende und scheiternde Menschen faszinieren mich. Es zieht mich an, wenn jemand mit sich selbst im Unreinen ist, dies jedoch erkennt und strebend sich bemüht, ganz zum eigenen Selbst und damit zu seinem Platz in dieser Welt zu finden. Die Entwicklung, die Vorwärtsbewegung, die Selbstzweifel der leidenden Seele und ihre unbedingte Bereitschaft, sich um der Selbsterkenntnis willen auch unangenehmen Einsichten auszusetzen - all das fasziniert mich an einem Menschen.
Viele derart veranlagte Menschen neigen zum künstlerischen Ausdruck. Im gestaltenden Schöpfungsakt konkretisiert sich der Wille zur Ausformung eines Gefühls, einer Erkenntnis, einer Meinung und letztlich vielleicht einer Identität.
Dieses Bedürfnis nach Ausdruck kann jedoch zur Falle werden. Das aus Intelligenz, Talent und mangelndem Selbstwertgefühl geborene Werk wird oft zum Selbstzweck, übertönt das Wesen des Schaffenden, anstatt seiner Auffindung zu dienen, und wird euphemistisch "Selbstverwirklichung" genannt, um den Umstand zu verschleiern, daß das tatsächliche Selbst ja eigentlich schon immer wirklich war, nur leider nicht entdeckt werden konnte und also durch ein neues, im Werk erfundenes Selbst ersetzt wurde.
Natürlich schafft dergleichen keine echte Befriedigung. Ein kurzer, aus der Anerkennung der Mitmenschen gespeister Rausch mag den Schmerz lindern, aber im tiefsten Grunde weiß die Seele doch, daß sie ihr Glück in einer allgemein beklatschten Fassade allein nicht finden kann. In der Hoffnung, irgendwann doch zur völligen Übereinstimmung von Tun und Sein zu gelangen, wird also weitergeschaffen, und die im Werk manifestierte Ersatzidentität wächst und gewinnt immer mehr Macht. Jedem Gefühl, jeder Laune, jeder kurzzeitigen Idee wird Ausdruck gegeben in der Hoffnung, irgendwann füge sich daraus ein die Seele spiegelndes und also erkennbar machendes Gesamtbild.
Dem ist aber nicht so. Stattdessen beginnt sich derjenige, der in der Kunst sein Heil sucht, um sich selbst zu drehen und jede Regung seines Herzens oder seines Kopfes nur noch werkzentriert zu verstehen. Er entfernt sich von den Menschen, obwohl er vielleicht immer mehr Bewunderung erfährt, verliert sich selbst und sieht sein Leiden nicht mehr als Motivation seiner Suche, sondern nur noch als Rechtfertigung seiner rücksichtslosen Egozentrik.
Sich um sich selbst zu drehen, ist keine Vorwärtsbewegung, und rastlos in den eigenen Launen herumzuwühlen und seine Mitwelt damit zu penetrieren, schafft keinen echten Außenbezug. Selbstfindung kann nur glücken, wenn man sich selbst und anderen als Mensch unmittelbar erkennbar bleibt. Niemand wird in seinem Werk, sondern bestenfalls um seines Werkes willen geliebt. Dies jedoch bleibt unbefriedigend, weil es an menschlicher Nähe fehlt.
P.S.: Der gleiche Mechanismus gilt natürlich für bürgerliche Berufe, die zur Identitätsstiftung herangezogen werden, sowie für alle anderen Ersatzbefriedigungen. Die Kunst war hier nur das wohl intensivste Beispiel.