Dienstag, 20. November 2012

Rundes am Rande

Die Wahrheit ist eine Kugel. Gleich, wie lange wir sie anstarren, wir sind darauf beschränkt, höchstens eine Hälfte zu sehen. Und je näher wir herangehen, desto kleiner wird der wahrnehmbare Ausschnitt.

Wenn wir sie ganz erkennen wollen, müssen wir sie aus hinlänglicher Entfernung betrachten, vor allem aber: zu zweit! Und zwar von einander genau entgegengesetzten Standpunkten aus.

Das Wichtigste dabei aber ist - wir müssen bereit sein, den Blick des Anderen als ebenso wahr zu akzeptieren wie unseren eigenen.

Wer neben uns steht, ist vermutlich sehr loyal, sieht aber kaum Anderes als wir selbst. Es liegt also die Wahrheit erst im scheinbar Widersprüchlichen, in den ganz und gar diametralen Perspektiven.

Irgendwie macht mir das Hoffnung.

Dienstag, 13. November 2012

Austergewöhnliches

Es ist doch so - ein paar der wundervollsten Dinge auf Erden verdanken wir den Widerständen, die ihnen entgegengebracht werden.

Nehmen wir die Auster - sie spürt in ihrem zarten Fleisch schmerzlich das Sandkorn, das in ihr Inneres gelangt ist, sei es durch eine Laune der Strömung, sei es durch zielbewußtes Streben - denn das Zielbewußtsein von Sandkörnern ist keineswegs zu unterschätzen!

Nun wird die zarte, schmerzleidende Auster dem Sandkorn jeden erdenklichen Widerstand leisten. Es gehört, so ihre Überzeugung, durchaus nicht dahin, wo es nun sitzt, im weichen, zarten Fleisch ihrer intimsten Innerlichkeit nämlich, die sie mit ihrer harten Schale vor jedweder eindringenden Gefahr zu schützen sucht. Denn sie weiß nur zu genau, daß die meisten Kräfte, die ihre muschelgepanzerte Verteidigung zu durchbrechen trachten, nichts anderes als ihre Vernichtung im Sinn haben. Es ist also durchaus nachvollziehbar, wenn die Auster sich hart und dunkel abschirmt gegen jede äußere Bedrängnis, denn ihrer austrigen Lebenserfahrung entspricht es nun mal, zunächst die Gefahr zu sehen.

Ganz anders das Sandkorn. Es weiß sehr wohl um den Widerstand, den die Auster ihm als Eindringling leisten wird, ist ihm doch allzu klar, wie existenzbedrohend sich andere Sandkörner in unterseeischen Stürmen aufgeführt haben mögen. Aber es hat Höheres im Sinn. Nicht das rohe Verletzen zarter Innerlichkeit, sondern eine liebevolle Verschmelzung des eigenen Bemühens mit den sich dagegen regenden Widerständen zu dem einzigen Zweck, etwas derart Schönes und Endgültiges zu erschaffen, daß es schließlich sogar der Auster ein zustimmendes Staunen abringt.

Es setzt sich also fest, das Sandkorn, eben dort, wo die Auster es am wenigten haben will. Und so hüllt sie das Sandkorn ein in dasselbe Material, aus dem sie schon ihre schützende Schale gefertigt hat, läßt es allzu deutlich spüren, wie fremd und unerwünscht es ist, und umgibt es mit einer kalten, glatten Schicht aus Ablehnung. Doch weil das Sandkorn Höheres, Schöneres im Sinn hat, geht es nicht weg. Im Gegenteil - tiefer noch gräbt es sich ins weiche, zarte Fleisch der Auster ein, so daß diese ihren Widerstand steigert und noch eine Schicht kühler Verneinung um das Sandkorn legt. Und so geht es weiter und weiter. Keine Seite gibt nach oder gesteht die Aussichtslosigkeit des Kampfes ein...

Und dann, irgendwann... hat die Auster das Sandkorn in einen so dicken Mantel ihrer eigenen Substanz gehüllt, daß es nachgerade ein Teil von ihr geworden ist. Ganz gleich ist die runde, weißschimmernde Hülle des Sandkorns nun der Innenseite des Muschelpanzers, der das zarte, weiche Fleisch einst vor ihm beschützen sollte.

Wer je eine starke, ihr Inneres leidenschaftlich schützende Auster öffnet, die eine dicke, glänzende Perle birgt, wird finden, daß nichts auf der Welt endgültiger zusammen gehört, als diese zwei.


(Anmerkung: Daß die Wissenschaft die Annahme, Perlen entstünden aus eingedrungenen Sandkörnern, heute überwiegend verwirft, ist mir bekannt. Die nunmehr vorherrschende Auffassung, eine durch Parasitenbefall bedingte Zystenbildung sei für die Entstehung von Perlen ursächlich, war indes literarisch kaum zu verwerten...)

Mittwoch, 3. Oktober 2012

Wunder

Mir ist ein Wunder geschehen. Ein unfassbares Wunder, gegen jede Erwartung, gegen jede Wahrscheinlichkeit, ein Glück, das mein kleines Leben nach kalter, dunkler Nacht hell und warm bestrahlte und mich stumm und dankbar darüber staunen ließ, was noch alles möglich ist, wenn man auf nichts mehr hofft.

Wunder geschehen also. Was der Schlager auf naiv-verträumte Weise zu wissen glaubt, ist mir tiefe existenzielle Gewißheit. Wunder geschehen, und ob sie nun einem göttlichen Plan zu verdanken sind oder nur den unwahrscheinlichsten aller möglichen Ereignisverläufe verwirklichen, spielt keine Rolle.

Irgendwie jedoch scheint es sie nicht umsonst zu geben. Ob göttliche Gnade oder statistische Unwahrscheinlichkeit - in beiden Fällen ist einem Wunder stets ein Gegengewicht zugeordnet. Und so frage ich mich: Muß man sich Wunder vielleicht verdienen?

Gott mag sich für die Gnade eines Wunders erhoffen, man möge Erkenntnis gewinnen, sein Bewusstsein erweitern, Dankbarkeit und Demut lernen und seinen Glauben festigen. Eben deshalb mag der Weg zum Wunder (oder der danach) besonders steinig sein. Das Wunder an sich aber wird dadurch nur umso wundervoller. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung, wenn man Gott nicht einbeziehen möchte, macht es seltsamerweise genau so. Dem unwahrscheinlichsten Ereignisverlauf ist - zumindest statistisch - ein Gegenereignis zugeordnet, das das Gleichgewicht des Seins wieder herstellt. Regression zur Mitte nennt das die Wissenschaft. Und so gestaltet sich der Empfang eines Wunders oft schwierig, und ob man es sogleich merkt oder nicht, irgendwann wird man an irgendeiner Stelle eine ausgleichende Einschränkung spüren.

Daran ist wohl nicht zu rütteln. Wie also geht man damit um? Was mache ich nun aus dem Wunder, das mir geschah, und dessen Wunderhaftigkeit von den ausgleichenden Schwierigkeiten ausgetilgt zu sein scheint? Die Antwort könnte nicht einfacher sein:

Wenn es der Gesetzmäßigkeit des Universums entspricht, Wunder zu relativieren, dann - ändere ich das Universum eben.

Ja, sich zu finden, zu einigen, zu verstehen, anzunehmen und sein zu lassen, ist unsagbar schwierig, aber längst nicht zu schwierig für das Wunder der Liebe. Mag ja sein, daß Statistik und Wahrscheinlichkeit Gutes und Schlechtes eins zu eins gegeneinandersetzen. Objektiv besteht eben ein Gleichgewicht, dessen nüchterne Analyse einen verzweifeln lassen möchte.

Aber: Pfeif' auf die Objektivität! Zur Hölle mit allen Analysen. Wir reden hier über Wunder! Und ein Wunder wäre ja kein Wunder, wenn es nicht Wunderbares beinhaltete. Ich steige hinweg über die Objektivität und gewähre mir den irrationalen Ansatz, das Wunder für größer, für bedeutender und für echter zu erachten als sein aufgeblasenes statistisches Schwierigkeitsgegengewicht. Mit spöttischem Lächeln schaue ich hinab auf den kläglichen Versuch des Universums, mir mein Wunder zu verleiden. Denn das Wunder ist das einzige, was zählt.

Geh nicht weg, mein Wunder. Wir haben gerade erst begonnen, das Universum zu verändern.

Samstag, 28. Juli 2012

Meeresrausch

Ich habe es lange nicht gesehen, das Meer, doch nun, da ich, die nackten Füße im feuchten Sand, meinen Blick darein versenke, wie es gierig an der Küste leckt, verführt mich seine grüne Tiefe zu verwegensten Gedanken, und das Gleichmaß seines kraftvollen Drängens berauscht meine Sinne.

Vermißt habe ich es, das Meer und seinen rücksichtslosen Egoismus, mit dem es nicht wirbt und buhlt, sondern nimmt. Zuweilen bewundere und beneide ich diese meinem Wesen so ganz und gar fremden Eigenschaften und wünschte mir, weniger geworben und gebuhlt, berücksichtigt und geschont und stattdessen mehr genommen zu haben. Denn mein Werben und meine Rücksicht haben mich immer dann besonders lächerlich gemacht, wenn sie meinen sehnlichsten Zielen galten.

Zugleich empört es mich, das Meer, denn in seinem hartnäckigen Drängen liegt soviel Brutalität und Kompromißlosigkeit, daß mir sein Treiben nur gierig, triebhaft und geistlos, und in keiner Weise liebevoll vorkommt. Manchmal scheint es den Strand mit verspielt gekräuselten kleinen Wellen zu küssen, aber schon im nächsten Moment, als ob ihm die Zärtlichkeiten nicht mehr genügen, penetriert es ihn mit gewaltigen Brechern, und nichts bleibt dem Land, als die rohe Lust des Meeres über sich ergehen zu lassen.

Es zieht mich an, das Meer, in seiner Grobheit, seiner düsteren Gewalt. Es fasziniert mich, weil ich es erkenne, es verstehe, ohne selbst so sein zu können. Das Meer bekommt, was es will. Drängend, nehmend. Und was es hat, verschlingt und vernichtet es, macht es zum Teil seiner selbst, um sich noch mehr von dem zu nehmen, was es noch nicht hat.

Ich bin nicht wie das Meer. Konnte nie so sein. Wollte es auch nicht. Gebannt und wehrlos sehe ich zu, wie es sich Befriedigung verschafft und zugleich die Saat der Liebe, die ich an Land ausgestreut habe, achtlos davonspült. Seine grüne Tiefe verführt mich zu verwegensten Gedanken, derer ich keinen einzigen je werde umsetzen können.

Donnerstag, 12. Juli 2012

Wolkenleben

Die Wolken ziehen heute schnell am Julihimmel. Wie in Eile fliegen sie dahin. Fast so als hätten sie ein Ziel. Vielleicht glauben sie es sogar. Aber sie haben keins. Es ist nur der Wind, der sie treibt. Einige von ihnen zerfasert er, verwirbelt sie und löst sie auf. Sie lassen sich zerstören, indem sie sich treiben lassen, diese Wolken. Andere werden dicht, ballen sich zusammen und fliegen noch schneller dahin. Es sind, so möchte man glauben, die mächtigen Wolken, die sich selbst vom Wind, der sie treibt, nicht mehr sauber unterscheiden können. Sie vermögen die Sonne zu verdunkeln, das Land zu beregnen oder Blitze zu schleudern. Ganz wie es ihnen beliebt. Aber es ist dennoch nur der Wind, der sie treibt.

Hübscher anzusehen sind indes die kleinen, die verwirbelten Wolken, die, dem Spiel des Windes ausgesetzt, bald hierhin, bald dahin treiben, sich auflösen, um an anderer Stelle in neuer und erfreulicher Form wieder erscheinen. Sie lassen die Sonne durch und taugen nicht zum Regnen oder Blitzeschleudern. Sie sind einfach nur hübsch anzusehen, auch wenn sie dabei vergehen.

Mein Blick sinkt auf die Erde. Hier unten auf dem Platz vor der Alten Oper regt sich kein Lüftchen. Wie eine brütende Henne hat sich die Julihitze auf die Stadt gesetzt. Heiß und bewegungslos hat sie platzgenommen zwischen all den unbequemen Wolkenkratzern. Und dennoch eilen die Menschen umher, getrieben von einem Wind, der nur in ihnen weht. Auch sie glauben, ein Ziel zu haben, und ich frage mich, was das sein mag. Geld, Ansehen, Sinn? Oder laufen sie weg? Vor sich selbst, vor ihren Träumen? Nein, so sehen sie nicht aus. Sie schauen nach vorne, haben den Blick fest auf den nächsten Termin, den nächsten Erfolg gerichtet. Manche von ihnen sind eins geworden mit ihrem inneren Antrieb. Sie erreichen etwas, wie man so schön sagt. Nach Belieben beglücken oder verdammen sie ihre Welt. Die anderen werden getrieben, und ihr innerer Wind zerfasert nach und nach ihre Seele, solange bis sie vergehen und verwehen.

Ich selbst? Sitze nur so da. Es mangelt mir an Antrieb. Das habe ich schon oft gehört. So wird man nicht mächtig. Keine Blitze, kein Regen. Aber man zerfasert auch nicht. Man ist einfach nur. Und schaut.

Das Wolkenleben wäre wohl nichts für mich.

Samstag, 7. Juli 2012

Sepia

Ich sitze neben einer Melange auf einem Korbstuhl vor dem Rathaus, die Beine übergeschlagen, einen Arm lässig auf der Lehne abgelegt, weil man das hier so macht - lässig ist man; es paßt zu mir - und schaue durch braungetönte Brillengläser in einen strahlend blauen Sepiahimmel. Schmeichelhaft ist dieser Ton; er macht alles warm und weich. Den Himmel, das Rathaus, die leise rauschenden Bäume, den Asphalt des Platzes sogar. Er macht mich ganz ruhig. Eine Beruhigungsbrille ist es, die ich da trage. Man kann meine Augen sehen, aber nicht zu tief hineinschauen. Lässig läßt es sich so sitzen mit dieser Brille. Denn so macht man es hier schließlich.

Mädchen in leichten Sommerkleidern schlendern an mir vorbei, aber ansehen tut mich niemand, schon eine Weile nicht mehr. Ich habe meine Anziehungskraft verloren, bin unsichtbar geworden in dieser Stadt, die mich nie aufgenommen hat, gleich, wie sehr ich um ihre Gunst gebuhlt habe. Solange ich buhlte, sah man mich an. Aber ich suche keine Gunst mehr. Nicht die der Stadt, und auch nicht die der Mädchen. Und so sitze ich nicht eigentlich lässig hier, wie man es eben macht; das Wort trifft es nicht ganz. Eher gelassen. Gelassen von der eigenen Leine, an der ich mich führte, während ich buhlte. Gelassen aus dem würgenden Griff meiner rastlosen Gier.

Ich sehe sie an, die schlendernden Mädchen in ihren leichten Sommerkleidern, sehe durch meine Beruhigungsbrille ihren federnden Gang, ihre schlanken, nackten Arme, bei deren Anblick ich früher die übergeschlagenen Beine ein wenig aufeinander gepreßt hätte, um meine Erregung deutlicher zu spüren, und ihr unbeschwertes Lachen. Sehe es ohne Gier. Ohne den Drang zu buhlen. Gelassen.

Als ich damals in diese Stadt kam, die mich nie aufgenommen hat, wähnte ich mich frei. Frei von allem, was ich hinter mir gelassen hatte, frei von allen Zwängen und Engen, die mein altes Leben um mich zu legen begonnen hatte, und diese Freiheit, die auch immer ein wenig eine Leere ist, füllte ich eine Weile lang mit der gierigen Jagd nach allem, was neu und anders war als das, was ich zurückgelassen hatte. Grün waren meine Sonnenbrillengläser damals, und mein Blick zuckte suchend und buhlend hinter ihnen herum, um in der grünen Stadt irgendeinen Halt zu finden. Aber was dieser Blick auch erfaßte, entglitt ihm bald wieder und versank schweigend und kühl im grünen Asphalt. Es war, als lockte die Stadt, die mich nie aufgenommen hat, mein Bemühen nur zu dem einen Zweck hervor, es zu enttäuschen. Und gedüngt von dieser Enttäuschung wuchsen meiner Gier immer mehr Tentakel, die immer schneller in immer mehr Richtungen grabschten, um einen immer beliebigeren Halt zu finden. Sie umzappelten mich so wild, daß ich mich darin versponn und meine Gier mir den Atem nahm, sogar den zum Buhlen, während die grüne Stadt um mich herum ihren federnden Gang ging und unbeschwert lachte, lässig, so wie man es hier eben macht.

Und dann wurde es schattig. Jemand trat vor mich, verdeckte die Sonne und nahm mir die grüne Brille ab. Nahm sie und trat einen Schritt zurück. Und wie ein Kuß aus Feuer stach die Sonne tief in meinen Kopf, und die Tentakel erlahmten. Sie fielen von mir ab, und ich begann zu atmen. Klare, ungefärbte sonnige Erkenntnis. Und noch ehe mir klar wurde, daß meine Welt eine andere Farbe brauchte, hatte ich wie durch ein Wunder die Beruhigungsbrille auf, und die grüne Stadt wurde sepiabraun. Warm und weich. Und mein Blick auf all das Schlendern und Lachen und Rauschen um mich herum wurde gelassen.

So sitze ich hier neben einer Melange auf einem Korbstuhl vor dem Rathaus, die Beine übergeschlagen, einen Arm gelassen auf der Lehne abgelegt, und schaue durch braungetönte Brillengläser in einen strahlend blauen Sepiahimmel.

Samstag, 23. Juni 2012

Titel: ohne

Wie ich mich auf dem Balkone
meiner Bohne heut belohne
dafür, daß ich wie 'ne Drohne
(oder ihre tausend Klone)
faulem Volk zum groben Hohne
mich im Dienste der Ikone
fleiß'gen Tagewerks nicht schone -
ja, das ist mal gar nicht ohne!

Dienstag, 15. Mai 2012

Warum bist Du denn jetzt schon wieder offline?

Irrungen und Wirrungen einer virtuellen Beziehung
(Text zur Lesung am 2. Mai 2012)

Es ist so toll, daß es WhatsApp gibt! Twitter, Facebook, Skype! Besonders, wenn man – wie wir – eine Fernebziehung führt. Wie einfach ist doch die tägliche Kommunikation durch diese Medien geworden, die immer und überall verfügbar sind und obendrein nichts kosten! Wieviel leichter ist es geworden, in ständigem, innigen Austausch zu stehen, als damals, da man sich noch anrufen oder gar Briefe schreiben mußte! Schöne neue Welt, besonders für zwei Schreiberlinge, deren kraftvollster, intensivster Ausdruck von jeher im geschrieben Wort liegt – wie perfekt läßt sich so die räumliche Distanz ertragen, ja überbrücken gar!

Und geht’s vielleicht nur mir so? Wo man geht und steht, sieht man Menschen eifrig in ihre schlauen Telefone tippen. Nie war man sich so nah wie heute!

„Was ist's, das haltend mich noch kettet an dies Leben?
Die Seelen sind's, die mir verwandt. Die mir verbunden, liebend zugetan!
Das Wissen um die Bande, die mich halten - nicht grausam ist's, doch tröstend Sinn mir spendend.
Und nie, geliebte Freundin, möchte ich Deiner mehr entbehren, bist Du doch der rettenden Seelen mir die nächste.“

So etwas würde man sich am Telefon wohl eher selten sagen! Mit einem iPhone jedoch sind derlei vollkommene Liebesschwüre auch über 1000 km hinweg mal eben schnell dem anderen Herzen zugeeignet!

Gewiß, sie birgt zuweilen auch ihre Tücken, die Schriftlichkeit. Dem Durchschnittsmenschen mag die Intonation dabei fehlen, die Mimik und die Bedeutungsnuancen, die man nur in der Melodie des gesprochenen Wortes wahrnimmt, und so entstehen aus dem Mangel an Mündlichkeit hier und da Mißverständnisse, Streitigkeiten gar.

Nicht so bei uns Schreiberlingen! Unsereins weiß mit dem Wort doch ganz anders umzugehen, und wären wir nicht in der Lage, unsere Botschaften auch ohne kommunikative Banalitäten wie Mimik und Betonung klar und deutlich zu vermitteln, hätten wir wohl unseren Beruf verfehlt. Ich zeige Ihnen mal, was ich meine, und schreibe meiner Freundin schnell ein paar geistvolle, poetische Zeilen:

„Geliebtes Nasenbärchen“ (man sagt sich ja gern neckische Zärtlichkeiten) „ich denke gerade so sehr an Dich! Geht es Dir gut? Kuß!“

Und noch ein rotes Herzchen dazu! So. Ich bin schon sehr romantisch. Und sieh an – da kommt schon ihre Antwort! Schnelle neue Welt. Was schreibt sie denn…?

„Geliebtes Schielauge“ (naja, das finde ich jetzt nicht so zärtlich) „mir geht es ganz gut. Wo warst Du denn gestern abend? Hatte gedacht, ich höre noch von Dir, und hab mir Sorgen gemacht.“

Ein rosa Herz steht dahinter. Wieso denn nur rosa? Sonst sind sie immer rot! Bestimmt paßt ihr wieder nicht, daß ich mich gestern nicht mehr gemeldet habe. Mal sehen, was ich ihr Feinsinniges, Diplomatisches zurückschreibe…

„Ich war mit ein paar Freunden fort, und irgendwie finde ich es nicht gut, daß Du mir das immer zum Vorwurf machst. Habe nun mal hier auch ein Leben.“

Das mag erst mal genügen als liebevoller Hinweis darauf, daß sie doch ziemlich schnell zur Eifersucht neigt. Ich bin nämlich immer sehr liebevoll und einfühlsam, müssen Sie wissen. Sie ist aber auch schrecklich empfindlich. Ah, sie antwortet:

„Das war doch kein Vorwurf, mein Herz! Wollte bloß wissen, warum ich gestern nichts mehr von Dir gehört habe. Und wenn Du nur gereizt reagierst und nix erzählst, sondern nur sagst, Du warst mit irgendwelchen namenlosen Freunden unterwegs, dann ist das schon bißchen komisch, oder?“

Moment bitte. Ein wenig mehr Einfühlsamkeit scheint gefragt. Ihr geht es offenbar nicht so gut mit der Situation.

„DU bist komisch heute! Immer nur Vorwürfe, anstatt einfach mal zu vertrauen. Weißt Du, diese paranoide Attitüde…“

Oh. Tut mir leid, daß Sie das jetzt mitbekommen mußten. Ich schreibe ihr nachher noch mal. Wissen Sie, normalerweise klappt das besser mit der schriftlichen Kommunikation. Ich zeige Ihnen das später. Manchmal ist es eben mühsam. Ich meine, haben Sie mal versucht, mit einem Menschen zu diskutieren, der auf jede Aussage ausschließlich emotional und ohne einen Hauch rationaler Überlegung reagiert, in jedem Wort nicht ansatzweise den Kern dessen, was gemeint ist, sondern nur die Kränkung seiner Person sucht und in jeder noch so sanften Kritik, ja in jeder abweichenden Meinung nichts als eine Beleidigung sieht, die ihn sofort berechtigt, alles Gesagte abzuwehren und als unzulässig zu denunzieren?

Es ist schon recht anstrengend, wenn jemand sich empört auf einzelne Wörter stürzt, die ihm nicht passen, anstatt erst mal einen Gesamtzusammenhang entstehen zu lassen, zuzuhören, Gesagtes auf sich wirken zu lassen und sich wenigstens ansatzweise mit den Gefühlen, Bedürfnissen, Gedanken und Verletzlichkeiten seines Gegenübers auseinanderzusetzen, kurz: wenn jemand sich sofort und mit allem nur angegriffen und abgewertet fühlt, anstatt zu begreifen, daß mit dem Diskurs nur ein spezifisches Phänomen, ein Einzelfall, nicht aber er als Mensch problematisiert wird. Ich tue das ja schließlich auch. Ich bin nämlich nicht nur sehr einfühlsam, sondern auch durchaus kritikfähig.

Oh. Moment. Was schreibt sie da?

„Wieso bist Du denn jetzt schon wieder offline?! Finde ich echt nicht okay, daß Du auf meine Nachricht nicht mal mehr antwortest. Wieder mit ‚Freunden‘ beschäftigt? Und dazu, daß ich am Wochenende kommen wollte, hast Du Dich auch noch nicht geäußert. Weißt Du, es reicht mir langsam. Wenn Du Dein lustiges Leben führen willst, dann mach das, aber ohne mich!“

Stimmt, ich habe ganz vergessen, ihr zurückzuschreiben, während ich mit Ihnen geplaudert habe. Dennoch - was denkt sie denn, was ich hier mache? Lustiges Leben, tze! Und KEIN Herzchen!! Entschuldigen Sie mich, ich muß das kurz klären!

„MIR reicht es langsam! Ich fühle mich derart kontrolliert von Dir, und Dein Mißtrauen ist unerträglich. So läßt sich doch keine Beziehung führen! Und auf Deinen Besuch freue ich mich eh, das habe ich doch schon gesagt!“

Das klingt jetzt natürlich ein wenig hart, aber tief in meinem Herzen bin ich gar nicht wirklich in Streitlaune. Ich bin liebevoll wie immer, und eigentlich ließe sich dieser Streit im Nu auflösen. Aber wissen Sie, jede Macke kann ich ihr ja nun auch nicht durchgehen lassen. Sie muß schon irgendwann begreifen, daß ihr Mißtrauen mehr Schaden als Nutzen bringt. Was schreibt sie da?

„Du freust Dich EH?! Ich kann auch daheim bleiben, wenn’s Dir so egal ist!“

Ah, die Tücken der Sprache! Das sagt man halt in Österreich so!!! Vielleicht sollte sie in dieser Stimmung wirklich zu Hause bleiben. Ich schreibe mal schnell was Versöhnliches, dann kann sie ja mal nachdenken, ob das alles so angemessen ist, was sie hier aufführt.

„Ja, vielleicht bleibst Du wirklich besser daheim! Das hält ja niemand aus so!“

So. Sie schreibt bestimmt gleich zurück und sieht ein, daß sie überempfindlich war. Ab und zu sieht sie ja auch mal was ein. Was vermutlich daran liegt, daß ich im Großen und Ganzen ja doch sehr liebevoll und einfühlsam mit ihr bin.

Hm. Einen Tag lang nichts gehört. Oh, nun hat sie mich bei Facebook gelöscht. Eine sehr harte Geste. Sie wird doch nicht ernsthaft denken, ich hätte Schluß gemacht? Das will ich doch gar nicht. Ich will doch nur, daß sie begreift, wie paranoid sie ist und wie unrecht sie mir tut.

Na gut, ich twittere mal was. Da schaut sie immer nach. Sie kann es ja doch nicht lassen, überall zu schauen, was ich mache und schreibe…

„Es gibt Menschen, die vor offenen Toren stehen und glauben, nicht hindurchgehen zu können, nur weil ihnen jemand sagte, sie seien verschlossen!“

Das ist sehr geistvoll. Und einfühlsam. Es soll ja gar nicht vorbei sein… Aber wenn ich ihr jetzt schreibe, verliere ich vollkommen mein Gesicht. Dann nimmt sie mich ja nie wieder ernst. Lieber noch ein versteckter Hinweis bei Twitter:

„Nur ein kleiner Schritt über den eigenen Schatten, aber ein gigantischer Sprung für die Liebe…“

Das müßte sie jetzt aber wirklich verstehen. Warum schreibt sie mir denn nicht? Schon den dritten Tag nicht. Hm. Sollten wir uns tatsächlich so mißverstanden haben? Wir Schreiberlinge? Kann doch eigentlich nicht sein. Eigentlich bestand doch gar kein echtes Problem. Ich war mit ein paar Freunden aus, daran ist nichts Unrechtes. Wir haben uns da wohl in etwas reingesteigert. Hm. Vielleicht war ich doch nicht einfühlsam genug… Ich denke, ich werde ihr schreiben. Über meinen Schatten springen. Und tatsächlich etwas einfühlsamer sein. Ich bin nämlich sehr gerne mit ihr zusammen.

Vielleicht rufe ich sie besser an.

Mittwoch, 18. April 2012

Gewinnen oder verlieren

Es war die seltsamste Spielschau, die man je gesehen hat. Die Kandidatin saß wie gelähmt an ihrem Pult und starrte auf die vier Antwortmöglichkeiten - A, B, C oder D. Rastlos zuckte ihr Blick auf dem Bildschirm herum, gerade so als sei vielleicht die richtige Antwort ein bißchen heller als alle anderen, und man müsse nur geduldig warten, bis der Unterschied auffällig genug würde, um ganz sicher zu gehen. Aber dergleichen passiert nicht in solchen Spielen. Der Druck war fraglos enorm - bei dieser Frage ging es um den berauschenden Millionengewinn oder den demütigenden Absturz auf die Null, und so wurde die Kandidatin immer verspannter.

Dabei hatte alles so gut angefangen. Als sie das Scheinwerferlicht betreten und sich der Alternative zu gewinnen oder zu verlieren bedingungslos unterworfen hatte, waren ihr sogleich die Herzen des Publikums zugeflogen. Minutenlang hatte man ihr applaudiert, und sie hatte es sichtlich genossen. Mit jenem zauberhaften Lächeln, bei dem rechts stets ein kleiner Spalt zwischen ihren Lippen geöffnet blieb, auch wenn sie aufeinander lagen, und das die Frauen zauberhaft, die Männer hingegen geil fanden, hatte sie im Applaus geduscht und sich dann elegant auf den Hochstuhl gesetzt, auf dem sich ihr Schicksal entscheiden sollte. Die ersten Fragen hatte sie nicht ohne Zögern, aber fehlerlos beantwortet, und der Gewinn schien ihr gewiß.

Dann aber, gerade vor der Millionenfrage, fiel das Rechnersystem kurz aus, und der Bildschirm bot für ein paar Minuten keine Antwortmöglichkeiten. Eine Kleinigkeit, sollte man meinen, aber für die Kandidatin änderte sich in diesem Moment alles. Ihr Lächeln verschwand; ihr so schönes Gesicht verzerrte sich zu einer hysterischen Fratze, und sie schrie den Moderator an, daß sie das Spiel sofort verlassen wolle. Sie würde die Polizei rufen, wenn man sie nicht gehen ließe. Schrie's, sprang auf und rannte hinaus.

Es war still im Saal. Niemand regte sich. Niemand sprach. Ein leises Schluchzen aus den hinteren Reihen, das war alles, was man hörte. Auch der Moderator saß stumm auf seinem Stuhl und starrte durch sein Pult hindurch mit glasigen Augen ins Leere. Fast eine halbe Stunde saß man so, ohne daß etwas geschah.

Dann wurde das Publikum unruhig, und vom Eingang her breitete sich Gemurmel im ganzen Saal aus, das schließlich in einen erleichterten, prasselnden Applaus mündete - die Kandidatin war zurückgekehrt! Daß sie nach Nikotin roch und verweinte Augen hatte, war allenfalls dem Moderator bemerklich. Sie nahm Platz, und als wäre nichts geschehen, ließ der Moderator das Spiel weitergehen. Eigentlich hätte sie disqualifiziert werden müssen, aber das kam ihr nicht in den Sinn; vielmehr gefiel sie sich darin, überhaupt zurückgekehrt zu sein.

Dann stellte der Moderator die Millionenfrage, und die Kandidatin erstarrte. Sie verfiel in eine völlige Lähmung und schien nichts mehr wahrzunehmen. Einzig ihr Blick zuckte rastlos auf dem Bildschirm herum, gerade so als sei vielleicht die richtige Antwort ein bißchen heller als alle anderen. Der Moderator sah sie ermutigend an, aber sie bekam es nicht mit.

"C!" rief jemand aus dem Publikum, "die Antwort lautet C!"
Das war gegen die Regeln, aber mit einemmal schienen die ihre Gültigkeit verloren zu haben, und als ob sich das Publikum extra für sie zu einer Ausnahmesituation, zu einem Sonderrecht verschworen habe, erhoben sich immer mehr Stimmen und riefen "C! Wähle Antwort C!", bis es ein einziger Tumult aus Hilfe und Ermutigung war.

Die Kandidatin aber schien durch diese Hinweise erstrecht unsicher zu werden. Sie hielt sich die Ohren zu und schrie: "Nein, ich kann das nicht! Ich möchte aufhören!"
Schließlich legte der Moderator sanft die Hand auf ihren Arm, zog ihr behutsam die Hände von den Ohren und sagte: "Ihr Publikum hat recht! Es ist Antwort C. Drücken Sie auf C, und sie gewinnen die Million!"

"Das kann nicht sein!" schrie sie, "hier sind doch alle gegen mich! Ich habe so Angst davor, daß Ihr einfach nur gemein zu mir seid! Ich höre auf!" Und sie sprang auf und rannte abermals aus dem Saal.

Ein betroffenes Schweigen legte sich über die Menge. Dann stand einer nach dem anderen langsam und schweigend auf und ging. Bis der Moderator ganz allein war, mitten im Scheinwerferlicht, ohne Kandidatin, ohne Publikum, ohne Spiel und ohne Gewinner.

Als der Beleuchter begann, die Strahler abzuschalten, erhob sich der Moderator, ging hinaus und fuhr nach Hause. Von der Kandidatin hat er nie wieder etwas gehört.

Dienstag, 10. April 2012

Osterbegegnung

"Frohe Ostern!" ruft eine vertraute Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und stehe vor dem alten Mann, der mein Vater war.
"Dir auch!" antworte ich. Er umarmt mich. Es befremdet mich und dauert mir zu lange. Ich löse mich sanft. Dann entsteht eine kurze Pause.
"Geht es Dir gut? Bist Du gesund?" frage ich, denn das ist im Grunde alles, was mich interessiert. Ich wünsche dem alten Mann, der mein Vater war, nämlich von Herzen, daß es ihm gut geht.
"Ja, danke", antwortet er, "sehr gut geht es mir." Er hält inne. "Ich hätte so viel zu sagen", fährt er schließlich fort, "aber dafür reicht die Zeit wohl nicht aus. Wir müßten mal eine ganze Nacht lang reden."
"Dann sollten wir uns diese Gelegenheit schaffen", sage ich, "wenn Du das möchtest."
Insgeheim staune ich ein wenig über sein Bemühen. 15 Jahre hatten wir uns nichts zu sagen. Nun scheint ihm tatsächlich an einer Aussprache gelegen. Der alte Mann, der mein Vater war, scheint weiser geworden, ruhiger, versöhnlicher.
"Ich habe so viel nachgedacht", sagt er, "und es wurden sicher auf beiden Seiten Fehler gemacht."
Mein Erstaunen wächst. Solche Zugeständnisse bin ich nicht gewöhnt von dem alten Mann, der mein Vater war.
"Und ich habe mittlerweile erkannt", fährt er fort, und ich horche gespannt auf, "daß ich verdammt recht hatte!"
Ah. Jetzt erkenne ich ihn wieder. Nach all den Jahren ist sein Ansatz zu einem klärenden Gespräch, daß er recht hatte. Nun klingt der alte Mann wieder wie damals. Als er mein Vater war.
"Die Frage ist doch", sage ich langsam, bewußt nicht sofort auf seine Rechthaberei anspringend, "was wir zu gewinnen haben. Für mich jedenfalls funktioniert unser Verhältnis, so wie es ist, ganz gut..."
"Wir müssen einen Weg finden!" sagt er.
"Ich weiß nicht", erwidere ich, "es ist fraglos tragisch, wenn zwei Menschen sich durchaus nicht verstehen, besonders, wenn sie Vater und Sohn sind."
"Sehr tragisch!" betont er.
"Ja, ohne Frage. Aber man muß es irgendwann akzeptieren. Ich frage mich einfach, was gut für mich ist, und welcher Art von Gespräch oder Begegnung ich mich aussetzen möchte."
"Sag doch nicht immer nur 'ich' und 'für mich'", antwortet der alte Mann, der mein Vater war, fast etwas larmoyant, "das zeugt von einem so schlimmen Egoismus."
Hm, der Egoismusvorwurf mal wieder. Nun fehlt nur noch das Altersargument.
"Ich bin wahrlich kein egoistischer Mensch", sage ich und spüre, wie mein Staunen der üblichen Enttäuschung weicht, "aber ich habe, wie jeder Mensch, das Recht, mir für mein Leben sehr genau zu überlegen, was mir gut tut und was nicht, und Du hast mir eben sehr lange nicht gut getan."
"Allein schon diese Aussage!" sagt er, und seine Dramatik schwankt zwischen Wehklage und Vorwurf, "Du hattest so viele gute Jahre mit mir, und ich habe Dir alle Wege geebnet, alle Türen geöffnet und Dir alles ermöglicht, was man einem jungen Menschen ermöglichen kann!" Er seufzt tief und wendet sich halb ab. "Es war wohl doch ein Fehler, Dir heute nachzugehen..."
"Nun werd' mal nicht theatralisch", sage ich und spüre erstaunlicherweise nicht mehr wie früher die Versuchung in mir, die vielen Gemeinheiten, Machtspiele und Demütigungen aufzuzählen, von denen seine "Ermöglichungen" geprägt waren, "ich bin ja gar nicht gegen ein Gespräch! Ich frage mich nur, was wir zu gewinnen haben, wenn von vornherein feststeht, daß Du eh recht hattest."
"Man muß wohl doch älter werden", sagt er in schlecht inszenierter Erschütterung, "um das alles richtig sehen zu können!"
Das Alter. Da ist es.
"Ich bin fast 42 Jahre alt und habe auch schon einiges erlebt; ich bilde mir meine Sichtweise gewiß nicht aus jugendlichem Trotz." sage ich, und ich merke, wie das Gespräch mich zu belasten beginnt.
"Trotzdem", sagt er, "man muß noch älter werden."
Aha, denke ich.
"Aha." sage ich.
"Es war ein Fehler", sagt er leise, "mach's gut. Frohe Ostern." Er streckt mir die Hand hin und wendet sich halb zum Gehen. Das schlechte Gewissen, auf das diese Geste zielt, stellt sich indes nicht ein. Eher so etwas wie Wehmut.
"Dir auch!" sage ich. Ich lasse ihn gehen und wende mich meinerseits um. Gehe nach Hause.
Alles ist, wie es immer war. Er sieht sich im Recht. Es soll ihm gut gehen damit. Ich freue mich wirklich, wenn es dem alten Mann, der mein Vater war, gut geht. Er war schließlich mal mein Vater.

Donnerstag, 15. März 2012

Rezession

Verlassen und leer steht sie da, die Halle meiner Schreibwerkstatt, in der früher ein so produktives Treiben herrschte. Was war das für ein Rattern und Zischen der Ideen- und Gedankenmaschinen, ein Schütteln und eilfertiges Schnaufen der Wortfließbänder; kleine Gabelstapler fuhren umher, um die Berge von Themen und Erzählstoffen zu den richtigen Produktionsstätten zu bringen, und alles ward beschienen vom gleißenden Licht der Inspiration, das durch die großen Hallenfenster fiel.

Nun ist alles verstummt. Durch zerbrochene Fensterscheiben pfeift kühl-grauer Wind und verweht raschelnd die letzten Wortfetzen, die auf dem Hallenboden verstreut sind. Mein Namenszug, der einst am Giebel strahlte, blättert ab. Von irgendeinem Stahlträger hoch oben in der Dachkonstruktion tropfen Erinnerungen und schlagen glucksend auf dem steinigen Boden auf, ihr Echo an die weitläufige Leere verlierend. In den Ecken wuchern zerfallend modrige Pilze.

Die alte Halle wiederzubeleben, das ist mein Traum. Die rostigen Maschinen zu putzen, zu schmieren und wieder ans Laufen zu bringen, die Fließbänder in Bewegung zu versetzen und die Produktion wieder aufzunehmen - wie schön das wäre! Aber es fehlt an Stoff und an Licht. Ein wenig Öl gönne ich den Maschinen, damit sie nicht ganz verfallen. Aber produzieren tun sie derzeit nichts. Noch ist es nicht so weit. Noch herrscht Rezession.

Donnerstag, 2. Februar 2012

Morgen

Es riecht nach Farbe im Stiegenhaus. Irgendwo streicht jemand eine Wand, eine Decke, ein Zimmer. Ein Zuhause.

Farbe macht alles hell.

Ich mag diesen Geruch. Er erinnert mich an meine Kindheit. Mein Großvater strich immer alles selbst, und hin und wieder durfte auch ich an unschädlichen Stellen mal den Pinsel führen.

Farbe macht alles neu.

Ich war glücklich, wenn beschlossen wurde, ein Zimmer neu zu streichen. Wenn die Möbel herausgeschafft und die Böden und Fenster abgeklebt wurden. Dann tat sich etwas. Etwas wurde schöner, besser.

Farbe schafft Wohlbefinden.

Man streicht nicht oft. Wenn man streicht, tut man es für die nächsten Jahre. Man malt sich eine Zukunft an die Wand. Wenn mein Großvater strich, bedeutete das für mich, daß er sich für viele weitere Jahre einrichtete. Daß er noch lange da sein würde.

Farbe bleibt lange.

Wenn wir fertig waren, sahen die Räume frisch und neu aus. So wie sie nun ein paar Jahre lang aussehen würden. Wenn mein Großvater sagte: "Vielleicht hätte ich noch ein wenig Ocker bemischen sollen!", sagte ich: "Das machen wir dann beim nächsten Mal!", damit er nur nicht vergaß, sich auch nach den Jahren der neuen Farbe noch für Jahre einzurichten.

Farbe gestaltet ein Morgen.

Es riecht nach Farbe im Stiegenhaus, und ich denke an meinen Großvater. Er ist auf den Tag genau 13 Jahre tot. Aber irgendjemand streicht ein Zimmer. Malt eine Zukunft an die Wand. Weil es ein Morgen gibt. Ein Morgen, für das wir es uns schön machen. Du und ich.

Donnerstag, 19. Januar 2012

Sinkflug

Der seltsame Moment, wenn man anfängt, aufzuhören - wie sehr berührt er mich jedesmal aufs Neue. Wenn die Sekunden Dir heiser davon zu flüstern beginnen, eine aussterbende Spezies zu sein, deren Großteil Du schon getötet hast... Wenn Du aufhörst, in die Pedale zu treten, weil der Schwung für die verbleibende Strecke ausreicht... Wenn der Pilot durchsagt, man habe soeben die Reiseflughöhe verlassen und befinde sich im Landeanflug auf ein Ziel, von dem Du gar nicht weißt, ob Du hinmöchtest, ja das Du gar zu überfliegen gehofft hattest, und von dem Du doch wußtest, daß es unausweichlich das Ende der Reise sein würde, weil eben kein Treibstofftank groß genug ist für einen ewigen Höhenflug.

Es ist der Wandel, der uns traurig macht, der Zerfall von schönen Illusionen durch das Erkennen der ihnen zugrundeliegenden Wirklichkeit, und die Veränderung liebgewordener Zustände, die wir gern gehalten hätten, ungestört durch Lebensturbulenzen, eingefroren und wie den Faustschen Augenblick zum Verweilen überredet. Allein, nichts bleibt je, wie es ist, und so gut und wichtig das ist, so schmerzhaft kann es auch sein. Umdenken wird nicht leichter, und zugeben müssen, daß sich ein Zustand überlebt, ja daß man sich vielleicht sogar geirrt hat, ist wohl das Schwierigste am Leben. An meinem zumindest.

Doch wohnt jeder Veränderung auch eine Bewegung, eine Kraft inne, und jedem Anfang, wenn man es glauben mag, ein Zauber. Sie zu nutzen, diese Kraft, sich selbst und Liebgewonnenes zu entwickeln, voranzubringen, höheren Ebenen zuspülen zu lassen oder diese gar selbst zu erklimmen, ist das Geheimnis des Glücks, das ich noch lernen muß. Ich bin noch nicht perfekt darin. Aber ich arbeite dran.

Der seltsame Moment, wenn man anfängt, aufzuhören, ist auch immer der Moment, in dem man beginnt, anzufangen. Und plötzlich erscheint es gar nicht mehr so schlimm, ein Ziel zu haben, das man anfliegt. Wer hängt schon gern ewig in der Luft.