Montag, 16. September 2024

Kultur versus Natur

oder: Der Faschismus als natürliche Lebensform? 

Wer den Maria-Theresien-Platz in Wien kennt, weiß, daß sich hier das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museum gegenüberstehen, zwillingshaft gleich und doch ins genaue Gegenteil gespiegelt. Kunst und Natur als einander ergänzende Gegensätze bilden sich in dieser Architektur ab, und beide, so das Verständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts, unterliegen der Herrschaft des Menschen.

Liest man also die Kunst als Ausdruck des menschlichen Anspruchs, die Natur der Welt zu kultivieren, dann entstehen zwei Ebenen - eine grundlegende Ebene der Natur, aus der alles kommt, auf der alles fußt, und die nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, und eine darüber gelagerte Ebene der Kultur, die sich aus der ersteren herausformt und damit den ästhetischen, aber auch den praktischen, politischen, zivilisatorischen und logistischen Bedürfnissen des Menschen dienlich ist. Auf dieser Ebene ist unser Gemeinwesen organisiert. Hier finden sich unsere moralischen und gesetzlichen Regeln, unsere Umgangsformen und Manieren, unser künstlerischer Ausdruck, unsere Debatten und Diskurse, unser soziales Gefüge und unsere Vorstellungen von Anstand und Ordnung. Kultur - das ist in erster Linie Maß, Proportion und Gleichgewicht, eine ausgewogene, bewußte Gestaltung des Seins von apollinischer Schönheit.

Nun ist es für in diesem Sinne kultivierten Menschen schwer, sich dem Eindruck zu verweigern, daß genau diese Ebene unseres Seins zunehmend erodiert. Die Diskurse verrohen, die Manieren verlieren an Bedeutung (und eben jener Verlust, etwa beim Wegfall jeder Kleiderordnung, wird von manchen sogar als große Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen gefeiert), Kunst wird repetitiv, Anstand zur Interpretationssache, und die soziale Ordnung ächzt unter den Spannungen, die ihre immer extremeren Ränder verursachen. Der Mensch wird lauter und gröber, und das Ideal der starken, unerbittlichen Führung erlebt eine gruselige Wiedergeburt.

Aber warum? Freilich kann man das alles psychologisch ergründen - eine unbeherrschbar gewordene Welt, in der eine aus selbstsüchtiger Gier übermäßig geschundene Natur extreme Reaktionen zeigt, politische Ungewißheit überall, Kriege und Pandemien - zu viele Krisen, in denen sich der Mensch nach einfachen Antworten sehnt und jenen folgt, die sie versprechen. 
Aber auch das ist eine zu einfache Antwort. 

Ich frage mich zuweilen, ob wir nicht einfach kulturmüde sind. Ob wir einen seit 75 Jahren wildwuchernden Freiheitsbegriff nicht an einen Punkt haben gelangen lassen, an dem Freiheit vor allem als Freiheit von Zwang und Verantwortung verstanden wird. Als Freiheit von allem, was nicht in unser bequemes Selbstbild paßt. Denn Kultur ist immer auch Selbstzwang. Wenn ich mir zum Beispiel für eine Hochzeit bei 32 Grad einen Morning Coat anziehe, dann tue ich mir um des gesellschaftlichen Kodex' und des Gesamtbildes der Veranstaltung willen einen Zwang an - schon aus Respekt vor dem Brautpaar und der Festgemeinschaft. Der Wirkungshorizont meines Verhaltens erweitert sich über meine eigenen Bedürfnisse hinaus zu einem Teil des sozialen Ganzen. Natürlich gibt es da heutzutage auch welche, die ohne Rücksicht auf solche Erwägungen in kurzen Hosen kommen - "weil das ja bequem ist und sie eh machen dürfen, worauf sie Lust haben." Das sind die Menschen, die mir dann ganz gern raten, doch mal "locker" zu sein. Aber ihren Respekt vor der kulturellen Erhabenheit des Anlasses, den Respekt vor dem apollinischen Gesamtbild legen sie damit ab.

Diese schleichende Dekultivierung, die stufenweise Verrohung in allem, die Menschen, die sich auf der Straße wegen irgendwelcher Petitessen anschreien, der Groll, mit dem in den sozialen Netzwerken beleidigt, beschimpft, gelogen und gelästert wird, und der befreiende Rausch, mit dem man die eigene Weltanschauung herausbrüllt, weil man sich durch Gleichgesinnte bestärkt fühlt - all das wirkt auf mich viehisch. Der Mensch reanimalisiert sich, streift seine Kultur ab und löst Konflikte nach dem Recht des Stärkeren, Lauteren, Brutaleren. So wie es die Natur macht.

Eben jenes Überleben des Stärkeren ist indes das Wesen des Faschismus. Das tumbe Mitlaufen in der bequemen Verantwortungslosigkeit, die brutale Ausgrenzung alles Artfremden, die Abwertung schwachen Lebens als lebensunwert, die bedingungslose Führung des Starken und die blinde Gefolgschaft der Masse, das verantwortungslose Mitlaufen in einem ausschließlich auf Selbsterhaltung und Durchsetzung bedachten Gefüge - all das sind faschistische Prinzipien und haben mit apollinischer Balance nichts mehr zu tun. Wenn lächerliche Männchen mit bartlosen Hängebacken von der Wiederentdeckung der Männlichkeit faseln, dann ist damit nichts anderes gemeint als eben jenes Überleben des Stärkeren, dessen Selbstbehauptung in der Welt auf Rücksichtslosigkeit, Kampf und Sieg beruht. 

Der Faschismus, so möchte man sagen, ist der Versuch, die menschliche Gesellschaft zu renaturalisieren, oder im Umkehrschluß: das Wesen der Natur, auch der menschlichen, ist im Grunde eine faschistische Ordnung. 

Eine These, die angst macht. Tiefe Sorge und nackte Panik hervorruft. Denn in ihr schwingt etwas Unausweichliches mit, etwas Deterministisches. So als ob jede Phase kultureller Eindämmung der natürlichen Triebe irgendwann unter deren Druck wieder enden und ihnen neuerlich Raum geben muß, weil Instinkt eben doch wirkmächtiger ist als Vernunft, und der Trieb tiefer wurzelt als alle Erkenntnis. 

Und so schaue ich hin und her zwischen dem Kunsthistorischen und dem Naturhistorischen Museum und frage mich, warum uns der Ausgleich zwischen Natur und Kultur nicht gelingen will. Warum wir entweder in kultivierter Form erstarren oder uns rauschhaft dem ewigen Kampf der Natur hingeben, nach dem das Tier uns uns lechzt. Warum die apollinischer Balance nicht im Gleichgewicht bleibt und uns zu befriedigen oder gar glücklich zu machen vermag. 

Frag's mich und habe keine Antwort.

Dienstag, 13. August 2024

Freiheit, die ich meine

Freiheit - unser höchstes politisches Gut. Alle anderen Rechte und Vorzüge der Demokratie lassen unter diesen zentralen Begriff subsumieren. 

Für mich ist Freiheit immer eine europäische und sowohl in Deutschland als auch in Österreich nicht ohne die starke Gemeinschaft der EU denkbar. Ich bin froh und glücklich, in zwei stabilen EU-Staaten zu leben, und halte alle Austrittsphantasien, die hüben wie drüben von manchen diskutiert werden, für absurd.

Seien wir mal doch wieder ein bißchen dankbar und setzen uns ein für das immense Privileg der Freiheit, in der wir leben, statt das Erfolgsmodell EU schlecht zu reden und uns über angebliche Pommes-frites-Längenverordnungen aufzuregen. Mich jedenfalls beruhigt und beglückt es, über all meinen Wohnsitzen das nachtblaue Sternenbanner wehen zu sehen!

Denn es steht für jene Freiheit - die Freiheit, die ich meine!

Die Macht der wohlgewählten Worte

Worte sind irgendwie immer nur auf Platz zwei. "Taten zählen mehr als Worte", sagen die Menschen, oder gar "ein Bild sagt mehr als tausend Worte." Und so richtig diese Aussagen einerseits sind, so falsch kommen sie mir andererseits vor.

Denn Worte werden darin irgendwie gegen die anderen Ausdrucksformen ausgespielt, als Gegensatz oder Alternative dargestellt, die zur gleichen Zeit dem gleichen Zweck dient und sich dabei als minderwertig erweist.

Mich schmerzt diese Diskreditierung der Worte als Instrument der Kommunikation, denn ich liebe die Sprache und sehe in ihr nicht nur ein wunderbares Kulturphänomen, sondern auch das wichtigste und mächtigste Ausdrucksmittel überhaupt. Und zugleich erscheint es mir unfair, Bilder, Taten und Worte so kompetitiv gegeneinander zu stellen.

Natürlich ist es besser, jemand tut etwas, statt nur zu labern. Natürlich kann ein expressives Bild mehr spontane Gefühle evozieren als ein Text.

Aber darum geht es doch gar nicht.

Worte, unsere Sprache ist das, was uns menschlich macht. Sie ist (anders als Bilder) in der Lage, komplexe Sachverhalte umfassend zu beschreiben, zu differenzieren, Interessen klarzustellen und auszugleichen, und Menschen zueinander zu bringen. Würde mehr geredet - im Sinne echten Austauschs, Zuhörens und Verstehens -, gäbe es weniger Kriege, weniger Streit, weniger Scheidungen. 

Aber die Sprache wird immer mehr abgewertet. In einer audio-visuellen Medienwelt, in der wir in jedem Supermarkt, jedem Lokal und jedem Kaufhaus mit Musik behämmert werden, uns überall bunte Bilder bestrahlen und die Hälfte unserer Lebenszeit Bildschirme vor unseren Augen flimmern, nimmt die Tiefe, die Komplexität und Feinheit der Sprache ab. Unser Austausch wird standardisierter und simpler, und unsere Denkfähigkeit paßt sich nach unten an.

Weil ich das nicht gut finde, schreibe ich so gern. Weil ich das nicht gut finde, rate ich als Coach und Privatnensch, die Sprache nicht zu vernachlässigen, sondern sie zu lieben und zu pflegen. Denn wenn wir uns irgendwann nur noch angrunzen oder anbrüllen, wie man es im Alltag bereits beobachten kann, oder nur noch über stilisierte Bilder kommunizieren, dann haben wir unsere Menschlichkeit endgültig verloren.

Donnerstag, 18. Juli 2024

Mit dem Strom, gegen den Strom

 "Man muß gegen den Strom schwimmen. Bloß nicht Mainstream sein." Solche Formulierungen scheinen heute der Ausweis schlechthin zu sein für ein besonders eigenständiges, aufgeklärtes, moralisch und intellektuell überlegenes Denken. Und ich kann kaum in Worte kleiden, wie sehr mir das auf die Nerven geht.

Denn dieses Axiom, daß einen bloßes Dagegensein bereits über andere erhebt, daß ein stumpfes Bestreiten mehrheitlicher Meinungen und Wahrnehmungen in irgendeiner Weise elitär sei, dient doch nur einem Zweck: sich eine destruktive Mission zu geben und ein Narrativ der Überlegenheit zu schaffen. Es ist arrogant, weil es Mehrheiten als willenlose, breite Masse denunziert, und es ist undemokratisch, weil es eben jenen Mehrheitswillen nicht anerkennt. 

Vielleicht ist, was manche verächtlich "Mainstream" nennen, ja oft einfach nur gesunder Menschenverstand. Vielleicht fließt der Strom, gegen den die Selbstprofilierer so gerne schwimmen, ja genau deshalb so, weil das der für viele überzeugendste Weg ist.

Man verstehe mich nicht falsch - kritisches Denken ist sehr erwünscht! Allgemeine Überzeugungen immer wieder in Frage zu stellen, zu validieren oder zu optimieren, ist unser aller demokratische Pflicht. Mich stört nur das prinzipielle Dagegensein, das reflexhafte Ablehnen und Schlechtreden von allem, was eine Mehrheit für gut und richtig hält, nur um andere zu diskreditieren. 

Das ist nicht edel, widerständig und aufgeklärt, sondern spalterisch, selbstgefällig und eben viel zu simpel.

Sonntag, 7. Juli 2024

Der Mensch, der ist

Eine Selbstanalyse

„Ich möchte den Menschen sehen, der ist“, sagt sie, „nicht den, der geworden ist. Nicht das perfekt inszenierte Bild, das du mir zeigst.“
 
Seltsam, wie tief mich diese Worte treffen. Verletzen. Denn ich habe sie schon einmal gehört, vor langer Zeit. Sie berühren einen sehr alten, sehr wunden Punkt. Aber das kann sie natürlich nicht wissen. Sie hört nicht, wie mein Herz bricht, an derselben alten Stelle. Tief unter dem Bild, das sie von mir hat. Und das sie für inszeniert hält.
 
Aber ich höre es. Höre tief in mich hinein. Suche den Menschen, der ist unter dem Sediment lebenslangen Werdens. Und finde, wie immer – nichts.
 
Ist es überhaupt möglich zu sein, ohne geworden zu sein?, möchte ich ihr reflexhaft entgegenwerfen. Ist nicht schon das Neugeborene durch eine neunmonatige Erfahrung von Herz- und Atemgeräuschen, Stimmen, Hormonen, Nährstoffen und Gefühlen gegangen, durch den gedämpften Hall des mütterlichen Alltags? Die anstrengende Geburt und den ersten Schrei in der grellen Kälte? Wurden wir nicht alle spätestens in jenem Moment?
 
Aber ich weiß ja, was sie meint. Und ich will ihr nicht ausweichen, indem ich den Sinn ihrer Worte durch derlei Spitzfindigkeiten verzerre.
 
Wieder einmal suche ich ihn in mir. Den Menschen, der ist. Denn jetzt hat sie mich neugierig gemacht. Buchstäblich: gierig auf Neues. Denn da, in mir, ist nichts. Und war nie etwas. Nichts, was ich je gespürt hätte. Nichts, was je einfach nur war. So ganz ohne Werden. Ohne Suchen. Nichts, das es auch nur verdient, mit „ich“ bezeichnet zu werden. 
Andere tun sich da leichter. Andere, die ganz hier sind. Die sich mühelos konkretisieren in diesem Leben. Ich habe sie stets bewundert. Schon im Kindergarten: da waren kleine Menschen, die genau wußten, daß sie sind. „Ich“ sagten sie. Ganz überzeugt von der Bedeutung dieses Wortes. Und ich spürte sie. Nahm ihr Selbstbild wahr, ihr Stärke, ihre Echtheit. Aber auch ihre Sehnsucht, ihre Schwäche. Jedes Gefühl der Welt schien in mich hineinzufließen. Mein Reich hingegen war irgendwie nicht von dieser Welt. Und auch heute sehe ich Menschen, die ihre Identität messerscharf ausdefiniert haben – aus dem Seienden ganz folgelogisch zum Gewordenen. „Verwirklicht“ ist das Wort, das sie verwenden. Und es trifft: Das, was sie sind, in dem zu verwirklichen, was sie werden – das schaffen sie. Mir bleibt dieses Gefühl fremd. Denn ich bin ja nicht. 
 
Das, was sie Bild nennt, ist auch für mich selbst nicht leicht überwindbar. Für meinen Blick in mich selbst. Denn mehr als dieses Bild habe ich nicht.
 
Ich horche weiter. In mich. Auf andere. Suche. Frage. 
Und plötzlich ist da doch etwas. Sehr schemenhaft, sehr schwer greifbar. Ein Ahnen, mehr nicht. Ein Anhauch von universellem Sein, von Herkunft und Zugehörigkeit und Rückkehr. Leise und tief in meiner Seele flirrt es, webt sich hinaus ins Unendliche, oder von dort in mich hinein. Und das ist das Selbe, denn das Unendliche hat keine Richtung. Es zieht an mir, bindet mich. Läßt sich nicht benennen. Viel zu allgemein, viel zu wenig konkret, um daraus eine individuelle Substanz für mich selbst zu machen. Eine Wesentlichkeit. Für den Menschen, der ist. Im Gegenteil – es „enticht“ mich. Denn es gehört mir ja nicht. Sondern allem.
 
Einsam macht dieses Ahnen. Kaum jemand, der es spürt. Kaum jemand, der das schreckliche Alleinsein im Unendlichen mit mir teilt. Bis heute.
 
Je mehr ich mich auf sie eingelassen habe, meine Ahnung des Universellen, um Identität und Sinn in ihr zu finden, desto mehr hat sie mich isoliert. Wie paradox – das Universelle, das mich vereinzelt. Das Große, das mich verkleinert. Das Allgemeine, das mich von den Menschen trennt. Gefühligkeit. Traurigkeit. Schwermut. 
Das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Mehr wiegt eben schwerer. Wer viel ahnt von der Unendlichkeit des Seelenseins, der trägt eben schwer. Spürt das schlafende Lied in allen Dingen. Sehnt und strebt. Das Leben wird größer. Schwerer. Aber eben auch größer. Depression? Das sagt man heute viel zu schnell. Darin klingt Niedergedrücktheit. 
Nein, meine Schwermut war nie depressiv. Aber Sehnsucht lag darin. Wenigstens zu verstehen, was da ist. Einen Begriff, eine Idee, irgendetwas Greifbares. Das in diese Welt einzuordnen ist. Und mich in diese Welt einordnen könnte. Aber das hatte ich nicht. Ich war nur einsam. Zu fremd, zu fern dieser Welt, um in ihr zu bestehen.
 
Also griff ich nach ihr. Der Welt. Schuf mir Substanz aus dem, was mich umgab. Worin Sein lag. Worin ich Abbilder des Erahnten erspürte.
 
Die Weisheit und der Anstand meines Großvaters. Die Liebe meiner Mutter. Die Geborgenheit des großelterlichen Paradiesgartens, in dem die restliche Welt nicht galt. Eine Zwischenwelt, ein Tor zu dem, was ich im Ganzen ahnte. 
In allem aber war eines fühlbar – Liebe. Eine Liebe, die ich als Widerhall des Unendlichen, des unsichtbar Universellen und ewig Gültigen spürte. In allem. Und in mir. 
Wer viel Liebe hat, braucht viel Kraft. Liebe ist anstrengend. Nur, wer unendlich viel davon hat, wird nie erschöpft sein. Bald spürte ich sie überall. In Kunst und Kultur, dargestellter Schönheit als unvollkommenes Abbild der unergründlichen, grenzenlosen Schönheit des Seins. In virtuosem Handwerk, im Schöpfergeist und der Hingabe des Meisters an sein Werk. In Bildung und Wissen, in dem sich eine wesensgleiche Miniatur des universellen Bewußtseins herausbildet. Im Sex, in der körperlich-intimen Begegnung, weil sie – neben der Musik – das ist, was im Weltlichen der Verschmelzung mit dem universellen Sein, der vereinenden Begegnung von Seelen am nächsten kommt. Wenn man sie denn in dieser Dimension zu erleben vermag. Nur wenige Seelenbeziehungen verdienen diesen besonderen Ausdruck von Nähe, die mit schnellem Spaß oder viehischem Trieb freilich nichts zu tun haben kann. 
 
Der Ahnung auf die Schliche kommen. Sie echt und erlebbar machen. Zu einem Wesenskern meines Daseins. Das wurde mein Lebensziel. 
 
Ich schaue mich an. Mein Spiegelbild. Das Ahnen, Suchen, Zweifeln, Sehnen. Heimlich überfordert von den Wirkmechanismen der Welt. Nicht wirklich fähig, dieses erdige, grobe Leben ganz und gar zu leben. Voller Sehnsucht, anzukommen. Angenommen zu werden von dieser Welt. Und sie zugleich scheuend. 
Der Mensch, der ist. Er muß Teil von ihr werden. Sich verstecken, inszenieren in dem, was die Welt begreifen kann. Um sich dann wieder zu öffnen. Ganz zu zeigen. Sehr wenigen gegenüber. Die sich die Zeit nehmen.
Die Begriffe verschmelzen mir zu etwas Unendlichem. Das ich nie ganz begreifen kann. Liebe. Sehnsucht. Schönheit. Lust. Vollkommenheit, Ewigkeit. Sein. Alles wird mir eins. Ich suche nach Gleichgewicht. Harmonie. Nach Entsprechung des Innen und des Außen. Mein unendliches Seelensein und mein beschränktes Weltleben, ausbalanciert auf dem Lagerpunkt universeller Liebe. Einer Liebe, die beiden Seiten gilt. Und sie vereint. Ich möchte der Liebe ein Ziel geben. 
Nicht ich zähle hier, sondern das Maß, in dem ich die universelle Liebe, die mich durchfließt, in der Hiesigkeit verwirkliche. Auch das macht einsam. 
Was der Mensch, der ist, wirklich ist? Ich kann es immer noch nicht sagen. Aber ich kann aus dieser Ungewißheit, dieser Weltferne einen guten Lebensentwurf machen. Für mich und für andere. 
So ist das Bild, das perfekt inszenierte Bild, das sie sieht, eben nicht irgendein Bild. Es ist nicht einmal inszeniert. Inszeniert ist nur der Schein, der keine Entsprechung, kein Fundament im Sein hat. Mein Bild ist nicht so. Sondern es ist unvermeidbar entstanden, erwachsen aus mir. Aus dem Menschen, der ist. Und den es abbildet.
 
„Ich möchte mich nicht auf dich einlassen“, sagt sie, „ich suche Menschen, denen das Äußerliche, die schönen Dinge, der schnelle Spaß egal sind.“
 
Widerspricht sich das nicht? Wie gelange ich denn in jemandes Tiefe, jenseits der Oberfläche, wenn ich mich nicht einlasse?
Schneller Spaß. Falscher könnte sie mich wohl nicht deuten. 
Universelle Liebe. Die Sehnsucht nach völliger Einswerdung im Rahmen des weltlich Möglichen. Nach Rückkehr ins Ganze, Auflösung im Ewigen. Nach Verstehen. Verstanden werden. Annehmen. Verschmelzen in einem Moment der Unendlichkeit. Das trifft es wohl eher.
Schöne Dinge. Ja, die machen mir Freude, keine Frage. Aber nie um ihrer selbst willen. Nicht als Statussymbole. Wie lächerlich wäre das! 
Sie machen mir Freude, weil sie ihrerseits Ausdruck von etwas Höherem sind, dem Streben nach Perfektion, nach Schönheit, nach dem Edlen, Ungewöhnlichen, ein bißchen Überirdischen. Die Kunst. Das Handwerk. Weltenthobenheit. Eskapismus. Und weil es mir Freude macht, andere daran teilhaben zu lassen. Schöne Erfahrungen zu ermöglichen. Und sie zu teilen.
Aber ja, ich verstehe die Mißverständnisse. Und daß ich bei manchen Klischees bediene, über die ich selbst nur den Kopf schütteln kann. 
 
„Worte sind das eine“, sagt sie, „sich zeigen das andere. Und bei dir spüre ich die Brücke nicht. Daher ziehe ich mich zurück.“ Und geht. 
 
Es passiert mir öfter, daß ich zur Projektionsfläche für Dinge gemacht werde, die gar nichts mit mir zu tun haben. Mit einer Hartnäckigkeit werden sie mir angeklebt, die mich bestürzt. Und gegen die ich mich nicht wehren kann. Denn ich habe noch keinen Weg gefunden, diesen Zwiespalt aufzulösen. Die Brücke zu schlagen. 
Worte seien das eine. Nein. Für mich nicht. Für mich sind Worte alles. Ich habe sie früh geliebt. Sie mir zueigen gemacht, sie ergründet und geschliffen, gesammelt und gehegt. Sie sind meine einzige Chance. Die einzige Möglichkeit, in Austausch zu kommen mit der Welt, mit den Menschen. Und verstanden zu werden. Holprig, lückenhaft und stümpernd auszudrücken, zumindest anzudeuten, was ich ahnend in mir, im Seelensein spüre. Ich möchte verstanden werden. Es geschieht selten. 
Wie schade, wenn Menschen freiwillig so viel verpassen. Weil sie lieber projizieren und imaginieren als hinzusehen. Schutzbehauptungen ängstlicher Schwäche. Oder kalten Eigennutzes. Was weiß ich.
 
„Du zeigst der Welt ein Bild“, sagt sie, „und mit diesem Bild kann man bestimmt eine tolle Zeit verbringen. Aber ich will das nicht mehr.“
 
Eigentlich lernt man mich recht schnell kennen. Mich. Dieses liebende Sehnen nach dem Schönen, Großen, das sich nie konkret gefunden hat, sondern ein bißchen traurig und verzweifelt umherirrt und irgendwo einen Widerhall sucht. Vielleicht sogar etwas, das ich in der Begegnung mit anderen „ich“ nennen darf. Aber ganz decken wird sich das bei mir nie. Und so bleibt der Mensch, der ist, immer nur in dem erkennbar, was er geworden ist. 
Ja, ich bin weltlicher geworden in den letzten Jahren. Dem Anschein nach. Seit Kurzem lasse erstmals bewußt auf die Wirkmechanismen der Welt ein. Habe mir einen Platz geschaffen, den ich aushalte. Aus Verantwortung. Weil ich nicht mehr nur für mich leben und planen kann. Sondern für meine Tochter. Manchmal ist die Versuchung groß, mich hinter mir zu lassen. Also mein echtes Ich. Das Ich, das sucht und Angst hat und nicht recht hierher gehört. Mich ganz dem Weltlichen hinzugeben. Eine Ersatzidentität zu schaffen im Hier und Jetzt. Die verstanden wird. Und anerkannt. Wie so viele das so erfolgreich tun. Aber ich kann das nicht. Die Rolle bleibt unzureichend. Sie ist nicht unauthentisch. Aber bildet eben nur einen Bruchteil von mir ab. Eisberghaft.
Dünnes Eis. Was ich darstelle, wirkt auf die Außenwelt sehr viel überzeugender als es für mich selbst ist. Nie bin ich ganz davor gefeit, in mich zurückzufallen. Meinen Platz intuitiv und lustvoll zu sabotieren. 

Dabei habe ich Glück. Für mein Weltleben darf ich Dinge tun, die ich gern tue. Und die wiederum eine Brücke schlagen zum Großen, Universellen, Schöpferischen. Zum Ahnen, das zu skizzieren und abzubilden mir mein Gewordenes ermöglicht. Zur Liebe, die ich dazu nutze, Menschen zu helfen. 
 
Der Mensch, der ist. Er wird mir langsam klar. Sein Wesenskern ist Liebe. War es schon immer. Ihre Behauptung hat mir immerhin geholfen, ihn zu erkennen. 

Samstag, 6. Juli 2024

Der alltägliche Wahnsinn

Fühlen Sie sich beobachtet? Sind Sie überzeugt, alles und jeder habe sich verschworen, um Sie mundtot zu machen? Glauben Sie, als einer von wenigen begriffen zu haben, wie Regierung und ÖRR uns allen das Hirn waschen? Sehen nur Sie, daß wir längst in einer Diktatur leben, während alle anderen blind sind und schlafen?

Dann wäre es vielleicht ratsam, sich Hilfe zu holen. Gestern habe ich jedenfalls wieder feststellen müssen, wie abgedriftet manche Zeitgenossen mittlerweile sind. Ein Linkedin-Beitrag von mir, der eine sehr hohe Aufmerksamkeit bekam und viele Diskussionen ausgelöst hat, regte offenbar auch sehr verwirrte Menschen an, ihre kruden Thesen auszurollen. Es ist erschreckend, was manche gegen jeden gesunden Menschenverstand, jede offenbare Logik für plausibel halten, und wie sehr windigen Plattformen, vertrollten Portalen und einschlägig interessierten Kanälen bereitwilliger vertraut wird als einem alles in allem immer noch unabhängigen Rundfunk.

Um es mal ganz klar zu sagen:
Wer sich in einer Diktatur wähnt, ohne zu merken, daß er/sie genau das ohne jede Folge und Restriktion offen sagen kann, leidet unter Realitätsverlust.
Wer den Westen oder die deutschen Regierungsparteien als Kriegstreiber bezeichnet und einen Frieden mit Putin fordert, wohl wissend oder schamlos ignorierend, daß das für die Ukraine das Ende der Freiheit bedeutet, ist entweder dumm oder moralisch verkommen.
Und wer behauptet, verbaler Widerstand gegen die demokratisch legitimierte AfD, so wie ich ihn in meiner gestrigen Polemik geleistet habe, sei antidemokratisch und sogar demokratiefeindlich, dem seien zum Zurechtrücken der Maßstäbe die Geschichtsbücher empfohlen.

Ich bin wahrlich erschüttert, wie viele willige Vollstrecker, Schwafler und Schwurbler, Hetzer und Schufte Herr Putin mittlerweile findet - interessanterweise oft solche mit nichtssagenden Berufsbezeichnungen, von denen man sich fragen darf, ob es überhaupt echte Profile echter Menschen sind.

Ist es wirklich so schwer, anständig zu bleiben? Mal zu schauen, wer was mit welchen Mitteln will? Und daran einen moralischen Kompaß anzulegen, der recht eigentlich zur guten Erziehung gehören sollte?

Gottlob haben sich die meisten Menschen, die auf meinen Beitrag reagiert haben, sehr vernünftig und positiv geäußert. Das macht Hoffnung.

Freitag, 5. Juli 2024

Weißt Du noch...?

"Nostalgie", sagt mir neulich jemand, "ist für mich das sanfte Zurückblicken auf Augenblicke. Es ist eine emotionale Bindung an Zeiten oder Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen und nicht mehr gegenwärtig sind."

Ich geb's zu: Ich bin ganz furchtbar nostalgisch. Aber diese Definition hat mich doch zum Nachdenken gebracht. Nein, als bloßes Zurückblicken habe ich meine Nostalgie nie empfunden. Für mich sickert mit dem Eintauchen ins Vergangene auch immer ein wenig Vergangenes in die Gegenwart ein und gibt mir Gelegenheit, das, was ist, zu messen an dem, was war. Und wo es lohnend sein kann, Verlorenes wiederzugewinnen.

Vielleicht liegt das daran, daß ich Zeit nie streng linear wahrzunehmen imstande - oder willens - war. Vielleicht auch daran, daß manches, das war, nur deshalb vergangen ist, weil seine Zeit noch nicht gekommen, der nötige Reifegrad noch nicht erreicht war. Und das macht es jederzeit möglich und wünschenswert, Aspekte des Vergangenen erneut, mit einem erneuerten Blick zu betrachten und gegebenenfalls wieder zur Gegenwart zu machen. Können tun wir das in vielen Fällen. Oft wollen wir's nur nicht. Aus Scheu, aus Bequemlichkeit.

Denn die Vergangenheit hat einen Vorteil: Sie ist vergangen. Sie ist uns in ihrem Verlauf vollständig bekannt und damit beherrschbar. Sie überrascht und überrumpelt uns nicht mehr. Wenn ich Teile von ihr in die Gegenwart zurückhole, beginnt wieder die Ungewißheit, die Vielfalt der möglichen Verläufe in der Zukunft. Und die können wir eben nicht immer ganz beherrschen.

Ich glaube trotzdem, daß es sich lohnt, Zeit ein wenig fluider wahrzunehmen. Und Nostalgie nicht nur für sentimentale Rückschau, sondern dafür zu nutzen, die Gegenwart immer wieder zu evaluieren. Und manchmal mit vergangen Geglaubtem zu vervollständigen.

Sonntag, 30. Juni 2024

Einen Dreck regiert ihr!

In Essen ist AfD-Parteitag. Das bartlose Thüringer Männchen mit dem Oma-Gesicht betont, keinen Fußball zu schauen, einige Zuschauer bekennen auf ihren Leiberln ihre Loyalität zu einem feisten, korrupten Vaterlandsverräter, der Saal geilt sich an ethnischen Säuberungsphantasien auf und das blond gefärbte Doppelspitzchen faselt von Regierungsverantwortung.

Draußen vor der Halle überwiegt der Anstand - 70.000 demonstrieren gegen die Rechtsextremisten und zeigen die wahren Mehrheitsverhältnisse in diesem Deutschland.

Regieren wollt ihr Wichte, die ihr euren tumben Nationalismus so miserabel unglaubwürdig als Patriotismus zu verschleiern sucht, während ihr Deutschland schamlos an die verratet, die es zerstören wollen? Ihr geschichtsvergessenen Würstchen, die ihr keine Ahnung habt, wofür unsere wunderbare Flagge wirklich steht und das schwarz-rot-goldene Banner der Freiheit und Demokratie für euer ätzendes, hassvolles Geifern mißbraucht und damit schändet?

Einen Dreck regiert ihr. 
Nicht, solange wir so viel, viel mehr sind als ihr Giftspritzen.
Nicht, solange dieses Land frei und demokratisch und pluralistisch ist.
Nicht, solange unser nobles und ehrenwertes Grundgesetz gilt. Nicht, solange unsere großartige Nationalmannschaft genau so vielfältig und stark ist wie die Gesellschaft, in der wir leben.

Schwafelt weiter. Ihr werdet uns nicht überwinden.

Mittwoch, 19. Juni 2024

Verpaßte Chance

Eine Erinnerung

Ein Schwärmen und Schweben, 
Ein Klopfen und Beben, 
Ein Aufruhr im Herzen, 
Und wonnige Schmerzen, 
Ein süßes Behagen 
Im kribbelnden Magen, 
Ein ständiges Harren 
Und unruhiges Scharren, 
Zum Rechner getrieben, 
Ob Du mir geschrieben. 
Ein Glück, dann zu lesen, 
Was Dein schönes Wesen 
So klug mir zu sagen 
Hat, oder zu klagen... 

Die Sehnsucht, die Liebe, 
Die lustvollen Triebe, 
Das Spielen und Wollen, 
Das fragliche Sollen, 
Gedanken, Ideen, 
Der Wunsch, sich zu sehen, 
Die glückliche Segnung 
Der ersten Begegnung – 
Mit glühenden Sinnen 
Einander gewinnen, 
Versprechen zu halten, 
Nur halb zu entfalten, 
Was ganz noch zu werden, 
Nie schaffte auf Erden... 

Das Klammern, das Sehnen. 
Die zahllosen Tränen. 
Das Hoffen und Leiden, 
Dein deutliches Meiden... 

Das Damals – vergangen. 
Und doch noch gefangen. 
Das Falsche besteht nicht, 
Das Echte vergeht nicht.

So hat sich’s ergeben, 
So will ich es leben, 
Und wenn mir nichts bliebe 
Als daß ich Dich liebe.

Montag, 10. Juni 2024

Die Lust am rechten Rand

Das Ergebnis der Europa-Wahl ist zutiefst verstörend. Ein Erstarken rechtsradikaler Positionen in ganz Europa und ein immenser Erfolg der AfD bei den Unter-30-jährigen - das ist schwer zu fassen. Junge Menschen, die wie keine andere Generation vom Projekt Europa profitieren, favorisieren eine Partei, die es beenden will - ich bin sprachlos. Entgleitet uns die vielgelobte GenZ? Was macht den rechten Rand so attraktiv? Und ist die Mischung von Unbildung, Egozentrik und Social Media-Dauerbedröhnung vielleicht doch schädlicher für die Gesellschaft als irgendjemand zugeben will?

Klar ist, daß es gute Gründe gibt, mit der Regierung unzufrieden zu sein. Klar ist auch, daß die großen Probleme unserer Zeit, von Krieg über Migration und Pandemie bis zum Klimawandel, uns kognitiv und emotional überfordern und in vielen Menschen den Reflex auslösen, alles in Frage zu stellen und lieber einem radikalen Umbruch zuzustimmen als dem beharrlichen Lösen der komplexen Herausforderungen. Denn die Revolution gibt stets ein Gefühl der Selbstwirksamkeit, die als Gegenteil der Ohnmacht wahrgenommen und ersehnt wird.

Klar ist aber auch, daß die etablierte Politik in kommunikativer Hinsicht vollkommen versagt hat. Miserable Wahlplakate, selbstgefällige Talk Shows, lineares Fernsehen und ein Kanzler, der uns auf angeblich "hanseatisch-zurückhaltende" Art immer wieder im informationellen Nirgendwo hängen läßt - damit erreicht man junge Menschen nicht. Das immerhin hat die AfD verstanden und ohne Widerstand die Lufthoheit über die sozialen Netzwerke ergriffen. 

Das Wahlergebnis zeigt uns also auch: Um politische Inhalte geht es vielen Wählern kaum noch, sondern um Präsenz. Spitz gesagt: Die Menschen kaufen jeden Quatsch, solange er häufig genug aufpoppt.

Wie kriegen wir das in den Griff? Mit besserer, pragmatischerer, an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Politik, die nicht weltanschaulich agiert und ihre Energie mit Partikularinteressen verschwendet. Und ganz, ganz, ganz unbedingt mit klarerer, ehrlicherer, leidenschaftlicherer, verbindlicherer und viel besser kanalisierter Kommunikation, die die Menschen sowohl medial als auch emotional erreicht.

Aber das will halt gekonnt sein.

Donnerstag, 23. Mai 2024

Verweigert niemals ein Gespräch!

Ich blicke auf mein Leben, das ich der Kommunikation gewidmet habe, und finde haufenweise Fehler, bei mir und überall, wo Menschen miteinander umgehen. Manchmal geht einfach alles schief; wir haben einen schlechten Tag, nehmen uns nicht genug Zeit, um besonnen und konstruktiv zu agieren, und lassen uns von Gefühlswallungen zu Aussagen hinreißen, die ein völlig falsches Bild zeichnen.

Das Wunderbare an der Kommunikation ist jedoch, daß sie die größten Zerwürfnisse nicht nur zu schaffen, sondern auch zu heilen vermag - einfach durch ein klärendes Gespräch, einen besonnenen Austausch unter neuen Voraussetzungen. Man muß sich nur darauf einlassen. 

Daher kann ich nur raten: Verweigert niemals, wirklich niemals jemandem ein Gespräch, der darum bittet! Denn offenbar hat sich ja etwas geändert. Offenbar gibt es neue Einsichten und Perspektiven, die den bisherigen Austausch ergänzen, bereichern und erweitern können. Wo auch nur die geringste Chance auf eine Klärung, eine neue Lösung, eine Entschuldigung, ein gewachsenes Verständnis oder auch nur einen versöhnlichen Abschluß besteht, sollte man miteinander reden. 

Leider tun das nicht alle. Zu tief sitzen oft die Verletzungen, die Ängste und die Vorurteile. Zu fest glauben wir, auf Grundlage der bisherigen Erfahrungen schon vorher zu wissen, was unser Gegenüber sagen, tun und fordern wird, und viel zu sehr versteifen wir uns damit auf Axiome, Annahmen und Assoziationen, die mit der Wirklichkeit vielleicht gar nichts (mehr) zu tun haben, weil sie reine Projektion unseres eigenen Denkens sind. "Mit Dir rede ich nicht mehr!" Wie unendlich traurig.

Wirklich: Verweigert niemals jemandem ein Gespräch, der darum bittet! Wir verpassen Chancen auf unvermutete Erkenntnisse, auf ansonsten ungelebtes Leben und auf wunderbare Erfahrungen und Überraschungen. Und immer tragen wir unfertige, wunde Stellen auf unserer Seele davon.

Diesen Grundsatz immerhin habe ich bei allen Fehlern, die ich im Leben kommunikativ gemacht habe, stets gewahrt, sogar bei Menschen, die mich sehr verletzt haben. Jeder und jede verdient eine zweite, vielleicht sogar eine dritte Chance. Und ich bin damit noch nie schlecht gefahren.

Im kommunikativen Nirgendwo

Manchmal kommt man an, ohne irgendwo zu sein.
Manchmal blickt man auf ein Gespräch zurück und staunt, wie viel Inhalt, Meinung, Bedürfnis aneinander vorbeirauschen kann.
Manchmal glaubt man so leidenschaftlich an die eigene Sicht, daß man versäumt, Fragen zu stellen.
Manchmal will man so sehr Recht haben, daß man das Ziel verliert.
Manchmal dreht sich eine Lage so schnell, daß man vom falschen Ende her mit ihr umgeht.
Manchmal geht einfach alles schief.
Manchmal geht gute Kommunikation in einer Flut gut gemeinter, schlecht gemachter Erklärungen unter.
Manchmal wünschte man, das Leben hätte eine Rückspultaste.
Manchmal kommt man an, schaut sich um und ist mittendrin - im kommunikativen Nirgendwo.

Mittwoch, 22. Mai 2024

Bedauern

Mich reut das ungelebte Leben
und alles, was ich nicht getan,
wo Möglichkeiten mir gegeben,
und mich doch hemmte banger Wahn.

Mich reuen die Gelegenheiten,
die zu ergreifen ich vermied,
anstatt beherzt mir zu erstreiten,
was mir das Leben grad beschied.

Mich reuen all meine Bedenken,
durch die mir manche Lust entging,
und was das Schicksal an Geschenken
mir anbot, die ich nie empfing.

Mich reu'n Ideen, die verschwiegen
und Lippen, die ich nicht geküßt,
Gefühle, die verborgen liegen,
obschon man sie ausleben müßt.

Mich reut die Furcht, die ich verschleiert
als Stolz der Welt entgegenhielt -
ich hab' als Selbstrespekt gefeiert,
was meine Ängste überspielt'.

Mich reut, daß ich nicht loszulassen
imstande war, und zu vertrau'n,
anstatt in Ängsten zu erblassen
und Chancen hinterherzuschau'n.

Und jetzt, da in den Tod ich gleite,
wird meinem alten Herzen klar,
welch wunderbare Lebensweite
in allem zu gewinnen war.

Samstag, 4. Mai 2024

Nein.

Ein klares, unerschrockenes Nein zu eurer Gewalt, ihr feigen Schläger, ihr tumben Verräter an allem, was dieses Land großartig und lebenswert macht, ihr Verächter des Geistes von Hambach und der Freiheit, für die unsere Vorfahren 1848 auf die Barrikaden gegangen sind und sich in der Paulskirche versammelt haben - unter Schwarz, Rot und Gold, diesen wunderbaren Farben der Demokratie, die ihr so dummdreist für euer hassvolles Geifern zu vereinnahmen versucht. 

Aber es sind nicht eure Farben, es ist nicht euer Land. Schwarz-Rot-Gold sind die Farben aller Menschen, der hier in Frieden und Freiheit leben möchten, das Recht respektieren und bereit sind, sich einzubringen, ganz gleich, welcher Herkunft, Hautfarbe, Religion oder Sexualität sie sind. 

Ihr aber habt zum Gedeihen Deutschlands nichts beizutragen, und nichts sät ihr je aus als Hass, Zerstörung, Frust und Gewalt. Eure Anführer dienen willfährig fremden, bösen Herren und sind bereit, ihre Heimat gegen Geld der Düsternis und Knechtschaft auszuliefern. Nein, mit euch ist kein Staat zu machen - und es wird auch nicht geschehen. 

Denn wisset dies: Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir sind mehr. Und wir verteidigen diese Demokratie, diese Freiheit und dieses Land, das seine Herausforderungen nur in Einigkeit und Recht und Freiheit bewältigen kann und im Glanze dieses Glückes erblühen wird, wenn wir zusammenhalten, einander respektieren und gemeinsam eine menschenwürdige Zukunft schaffen. 

Und genau das machen wir jetzt.

Mittwoch, 24. April 2024

Pluralistisches Gewusel

Da stehe ich nun oben auf dem Haus des Meeres und blicke auf diese Stadt, die so sehr meine geworden ist, seit ich im März 2007 verwirrt und auf der Suche nach Antworten hier gestrandet bin. Und ich freue mich über dieses bunte, vielfältige und kreative Gebilde da unten, in dem ich so vollständig und gern aufgegangen bin. 

So will ich leben. So wünsche ich mir die Gesellschaft - als ein pluralistisches Gewusel, in dem man sich um die lokale Tradition, die Geschichte und die Kultur schart wie um ein wärmendes, erleuchtendes Feuer, in das jeder seinen Scheit hineinwerfen kann, von wo auch immer er oder sie ihn angeschleppt hat, damit noch mehr Licht, noch mehr Wärme entsteht und das Feuer weiterlodert. 

Ja, der Pluralismus zeitigt seine Probleme. Integration gelingt nicht überall, und ein paar mißbrauchen die Vergünstigungen, ohne die Werte mitzutragen. Aber das scheint mir, wie ich so auf mein Wien schaue, lösbar - hier und in meiner deutschen Heimat. Es braucht nur guten Willen und vor allem Perspektiven. 

Schaffen wir sie! Überlassen wir die Bedarfslücken an Identität, Werten, Integrationspunkten, Arbeit und Aufstieg, Kultur und Symbolen nicht den bösen, hohlen Heilsversprechen der Extremisten jeglicher Couleur, sondern schaffen wir eine Gemeinschaft mit klaren Regeln und echten Chancen! 

Wer ist dabei?

Montag, 8. April 2024

Vorbild Russland?

Gerhard Schröder wird 80, und die AfD feiert. Denn die von Anstandsreflexen unbeleckte Treue, mit der der Altkanzler an seiner Männerfreundschaft zu dem russischen Diktator, Kriegsverbrecher, Lügner und Serienmörder Putin festhält, beeindruckt den rechten Pöbel. Und so wird auch dort von strategischen Partnerschaften und Friedensverhandlungen phantasiert, die doch nichts anderes bedeuten können als die Auslieferung der Ukraine an ein Monster. 

Warum aber gerade Russland? Was fasziniert die neuen Nazis so sehr an jenem Land, das bis heute den Sieg über die alten Nazis feiert? Vielleicht, daß dort das Recht des Stärkeren gelebt wird, das rücksichtslose Gesetz der Gewalt, der Traum von der rauhen Natur, den besonders jene träumen, die sich zu Kultur und Zivilisation nicht in der Lage sehen. Stattdessen stilisieren sie den viehischen Kampf* vermeintlicher Rassen, in dem nur der Beste überlebt, zu einem heroischen Akt der Selbstbehauptung und faseln wirres Zeug von Männlichkeit - was wohl ein Euphemismus für archaische Brutalität ist. Lustig, daß gerade das Männlein in Thüringen mit seinem bartlosen Oma-Gesicht und seiner Pennälerstimme so lauthals die Maskulinität beschwört, die es wiederzuentdecken gelte – herrje, wieviel Autosuggestion mag in derlei Forderungen stecken? 

Es ist fast mitleiderregend, wie schwach jene Gestalten in ihrem beflissenen Streben nach Stärke wirken, wie klein der Traum von Größe macht. Wie viel Angst müssen sie haben, um sich permanent bedroht zu fühlen, wie bröckelig muß ihre stolze deutsche Identität sein, wenn sie sie ständig in Gefahr sehen? Fast mitleiderregend – wenn es nicht so verachtenswert wäre. Denn jedem anständigen, fühlenden, denkenden Menschen muß das Warum ein Rätsel bleiben – warum kann man ein autoritäres System wollen? Warum will man in einer Diktatur leben? Warum macht man sich gern und freiwillig zum Erfüllungsgehilfen der Träume anderer? 

Nein, Russland unter Putin ist kein Partner. Kein Vorbild. Kein Ideal. Es ist ein verachtenswerter, kriegstreiberischer Terrorstaat unter einem entmenschten Diktator, der nichts will als Macht und der Welt nichts bringt als Leid, Zerstörung, Not und neue Gewalt. Wo bleiben Kultur, Wissenschaft, Lösungen zu Umwelt, Ernährung, Bildung, Menschlichkeit? Wo bleibt das Gute, das fraglos in der russischen Seele steckt? Daran ließe sich anknüpfen. Aber dafür muß Putin weg! 


*Bevor sich die Tierfreunde wieder aufregen: Ja, ich weiß – Tiere führen keine derart organisierten Kriege! Aber der Kampf um Lebensraum und Ressourcen, das Ausstechen und Überwinden von Rivalen ist nun mal ein tierischer, der Evolution geschuldeter Trieb, den Menschen in der Regel kulturell zu bändigen wissen. Manche jedoch nutzen fatalerweise ihren Intellekt, um ihrem tierischen Instinkt Geltung zu verschaffen, was menschliches Handeln ungleich schrecklicher macht als tierisches. Aber der Impuls kommt eben aus der Natur.

Mittwoch, 28. Februar 2024

Die Wut

“Paß doch auf, du Ar***loch!“ 

Schon wieder ist es passiert. Ein Fußgänger und ein Radfahrer waren sich nicht ganz einig, wen ihre Begegnung zu welcher Kursänderung hätte veranlassen sollen, und so machten sie ihrem Frust in gegenseitigen Beschimpfungen Luft. Menschen, die sich überhaupt nicht kennen, schreien sich auf der Straße an. Mich bestürzt so etwas.  

Denn ich verstehe einfach nicht, warum einen solche Petitessen derart zu erzürnen vermögen. Wie viel aufgestaute Wut, wie viel Frust und wie viel Angst muß ein Mensch in sich tragen, um auf so wenig so heftig zu reagieren? Angst, fragt Ihr? Ja, Angst. Denn Wut ist evolutionär betrachtet ja nur ein Abwehrmittel gegen Bedrohungen. Und Alter, scheinen wir uns alle bedroht zu fühlen! 

Nun gut, es ist verständlich. In Teilen. Wir leben in einer Polykrise, und die Errungenschaften unserer Zivilisation haben unserer Resilienz nicht eben gutgetan. Dann wiederum läßt sich fragen: Wenn wir schon mit so vielen großen Krisen konfrontiert sind, wieso schaffen wir uns dann obendrein noch massenhaft kleine? 

Ich denke, wir sind einfach überreizt. Nicht nur von den globalen Krisen. Wir haben uns eine Kultur der Reizüberflutung geschaffen. Überall wummert Musik, LEDs blinken uns an, Bildschirme zappeln grell um uns herum, wir werden zugedröhnt von scheinbarem „Content“, der nichts als Informationsmüll ist, und nirgends herrscht mehr Ruhe. Echte, tiefe Ruhe. 

Und so wächst die Nervosität, die Gereiztheit, und der kleinste Auslöser zeitigt extreme Reaktionen. Die wiederum zur Überreizung beitragen. Es scheint eine unaufhaltsame Abwärtsspirale zu sein. 

Zum Glück glaube ich nicht an Unaufhaltsamkeit. Ich glaube an Kommunikation. Auch und besonders die nonverbale. Neulich etwa: eine typische Gehsteigsituation – man geht aufeinander zu, und beide weichen in die gleiche Richtung aus. Es entsteht ein kurzes Stocken, ein Hin und Her, bis man aneinander vorbei findet. Mich macht so etwas lächeln; man kann daraus etwas Charmantes machen. Die Dame gegenüber aber zischte mir im Vorbeigehen nur ein zorniges „Idiot!“ zu. Sehr seltsam und irgendwie mitleiderregend. Aber vielleicht nimmt sie mein Lächeln als Erinnerung mit und reagiert beim nächsten Mal nicht ganz so aggressiv. 

Wir können auch einfach mal nett zueinander sein. Freundlich und großmütig. Eine positive Grundannahme pflegen, einen axiomatischen Glauben daran, daß der andere nichts Böses im Sinn hat, auch wenn sein Verhalten uns gerade nervt. Die vielen negativen Reize werden wir nur minimieren, wenn wir positive dagegensetzen. Wenn wir rücksichtsvoller, gelassener und nachsichtiger miteinander umgehen und uns gegenseitig zeigen, daß wir einander respektieren und die kleinen Unannehmlichkeiten des Alltags bei Weitem nicht unsere größte Sorge sind. 

Das Leben wird so viel leichter, schöner, erfreulicher und produktiver, wenn wir freundlich sind! Wie wär’s – macht Ihr mit?

Sonntag, 25. Februar 2024

Das Böse

Nennen wir es beim Namen - das Böse. Es existiert. Heute vor zwei Jahren hat es sich auf besonders grausige Weise offenbart und die Zukunft zu einer düsteren Tür gemacht, hinter die zu schauen man sich kaum mehr getraut, und auf die wir doch unausweichlich zugehen. 

Wie gut, wie glücklich könnte diese Zukunft sein, wenn wir nur zusammenhielten! Wie frei und unbeschwert wir alle leben könnten, wenn wir die Herausforderungen der Zeit gemeinsam angingen, einander respektierten und hülfen! Die Welt ist immer noch groß genug und könnte uns alle ernähren - wenn wir sie nur mit Klugheit, Liebe und Großmut verwalteten und teilten. 

Aber da ist eben das Böse. Es verkörpert sich nicht nur in Wladimir Putin, dem bösen Zwerg im Kreml, der so gerne groß wäre, sondern auch in gierigen Geschäftsleuten und Machthabern, denen ihr Profit mehr bedeutet als der Erhalt des Planeten, in Spaltern und Hetzern, die Menschen gegeneinander aufwiegeln, indem sie Feindbilder schaffen und Haß säen, in den Stimmungsmachern und Lügnern, die Klischees befeuern und Vorurteile verfestigen. Und auch ganz einfach in den Menschen, die sich auf der Straße wegen Nichtigkeiten anschreien und auf jede Einschränkung ihres vermeintlichen Rechts, ihrer Sichtweise aggressiv und pöbelnd reagieren. 

Das Böse ist über all da, wo es darum geht, Menschen Nachteile zuzufügen, um selbst ein wenig besser davonzukommen. Auch und gerade, wenn es sich als Schutz des christlichen Abendlandes verkleidet. 

Heute vor zwei Jahren saß ich hinter der dunklen Tür des Zimmers 411 im Hamburger Hotel Tortue und konnte nicht fassen, was in den Nachrichten zu hören war. Gerade an jenem Tage, an dem ich ein Projekt für Verständigung und höchsten Nutzen für alle Seiten erfolgreich vollenden konnte, zeigte das Böse seine Fratze. Und es wird immer lauter - besonders in den sozialen Netzwerken, wo empörenderweise die wirrsten Behauptungen, die zersetzendsten Thesen beklatscht und geteilt werden, wo Menschen lauthals ihrer Meinung Ausdruck geben, sie dürften ihre Meinung nicht sagen, wo Informationen zerschnipselt und in einem völlig verzerrten Sinne wieder zusammengesetzt werden, um aufzuwiegeln und Verständigung zu erschweren. 

Ist es zu spät, dem Bösen Einhalt zu gebieten und seine rasende Verbreitung aufzuhalten? Nein! Ich glaube zutiefst an die Kraft der Kommunikation, und wenn wir nicht müde werden, zu widersprechen, aufzuklären und Zeichen zu setzen, dann kann es uns gelingen, das Böse am Guten scheitern zu lassen. Denn ich bin überzeugt: 

Wir sind mehr.

Sonntag, 4. Februar 2024

Mehr Schwarz-Rot-Gold bitte!

Ja, es wird gerade ein bißchen mein Lieblingsthema. Aber auch Symbolik ist eben Kommunikation, und also liegt die Sache durchaus in meinem beruflichen Betätigungsfeld. 

Es ist doch so: Der gemeine AfDler schwenkt die schwarz-rot-goldene Flagge und belegt damit, daß er ungebildet und geschichtsvergessen ist. Denn es sind nicht seine Farben.

Im Bundesarchiv in meiner Heimatstadt Koblenz gibt es ein Foto davon, wie Nationalsozialisten 1933 die schwarz-rot-goldenen Banner der Weimarer Republik durch den Straßendreck auf die Festung Ehrenbreitstein schleifen, um sie dort zu verbrennen - die Nazis haßten Schwarz-Rot-Gold und alles, wofür diese Farben stehen. Nicht umsonst wurde unsere Fahne in ihrer heutigen Form zum erstenmal bei einem Fest gezeigt – dem Hambacher Fest 1832, einer fröhlichen und friedlichen Party, deren Teilnehmer in der Begeisterung für eine gemeinsame, völkerverbindende Idee aufgingen. Niemals wurde unter der schwarz-rot-goldenen Fahne ein Krieg geführt – das würde auch allem widersprechen, wofür diese Farben von Anfang an standen: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und die friedliche Verständigung aller Völker.

Auf den vielen großartigen Demonstrationen für die Demokratie ist unsere Flagge leider kaum vertreten. Als demokratische Mehrheitsgesellschaft haben wir es sträflich versäumt, die Farben der Freiheit zum Teil unseres Selbstverständnisses und Demokratiebewußtseins zu machen und uns gegen ihren Mißbrauch, ihre Vereinnahmung und Schändung durch Neonazis und Rechtsextremisten zu empören. Wir haben dieses unglaublich positive und unbescholtene Symbol jahzehntelang verschämt vermieden oder zum Fußball-Accessoire nivelliert und es eben dadurch den Rechten ermöglicht, es nun nationalistisch umzudeuten.

Ich bin indes nicht bereit, es ihnen ohne Weiteres zu überlassen. UNSERE Farben, nicht deren. Die sollen gefälligst Schwarz-Weiß-Rot tragen.

Donnerstag, 1. Februar 2024

Mehr Leidenschaft für die Demokratie!

Ich glaube zutiefst an die Macht der Kommunikation. Deshalb habe ich meinen Beruf gewählt, und deshalb liebe ich besonders den Umgang mit Sprache. Und ich glaube, daß das Wohl und Wehe aller menschlichen Interaktion von der Qualität der Kommunikation abhängt, ganz gleich ob in Liebesbeziehungen, wirtschaftlichen Tätigkeiten, Alltagsbegegnungen, Freundschaften und im politischen Geschehen. 

Letzteres ist gerade sehr präsent. Der Extremismus, den wir vermehrt erleben, ist ohne Frage eine Gefahr für die Demokratie. Daß derzeit so viele Menschen dagegen aufstehen und für unsere freiheitliche Grundordnung auf die Straße gehen, ist nicht nur großartig, beruhigend und wünschenswert, sondern auch notwendig und ein exzellentes Stück Kommunikation mit einer klaren Botschaft: 

Wir sind mehr. 

An dieser Klarheit fehlt es meines Erachtens der medialen Berichterstattung und auch der Kommunikation der politischen Eliten. Aus meiner Beraterperspektive sehe ich hier zwei Schwächen: 

1. Es wird gewarnt und gewettert auf Teufel-komm-raus, und ich denke zuweilen, daß der AfD das nur recht sein kann. Denn es stilisiert sie zu einer bedrohlichen, fast unaufhaltsamen Macht, die, wenn überhaupt, nur massiver Widerstand eindämmen kann, und wer sich in ihrem Fahrwasser sieht, muß das Gefühl haben, auf einem erfolgreichen Weg zu sein. Eine Atmosphäre des verzweifelten Sich-Wehrens auf der einen, ein triumphierendes „Seht nur, wie sie zittern!“ auf der anderen Seite hat zersetzende Bewegungen in der Geschichte eher befeuert als aufgehalten. Dieses Gefühl dürfen wir den Fanatikern und Systemgegnern keinesfalls geben! 

2. Immer wieder wird aufgerufen, hetzerischen Reden und verzerrender Propaganda mit Fakten und Aufklärung zu begegnen. Eine emotional getriebene Weltsicht – und nichts anderes ist die Zustimmung zur AfD – wird man indes nicht auf der rationalen Ebene verändern, so sehr wir uns das wünschen. Menschen, die sich da verführen lassen, verwerfen Fakten als Lüge und zeigen damit ein emotionales Bedürfnis, das das bestehende System und seine Politik nicht mehr erfüllen. Und das müssen wir adressieren, so gern wir Deutschen auch rational argumentieren. 

Nehmen wir als Beispiel mal das simple Thema der heimatlichen oder kulturellen Identität, die schon bei ihrer bloßen Erwähnung als mindestens protorassistisch verurteilt und tabuisiert wird – weil ja alle Menschen gleich seien. Dieser linke Traum von totaler Gleichheit ist zwar völlig gegen die Natur des Menschen (und zudem übrigens das Gegenteil echter Vielfalt), wird aber als rationales Axiom in Dauerschleife postuliert. Also sind plötzlich nur noch Regenbogenflaggen in Ordnung, während Schwarz-Rot-Gold als nationalistisch verteufelt wird. 

Und wer füllt die Bedarfslücke und setzt sich sogar dreist auf das schwarz-rot-goldene Banner, das wunderbarste Symbol der Freiheit und der Völkerverständigung, das unsere Geschichte kennt? Die AfD. Mir bricht es jedesmal das Herz, wenn sie diese Farben für ihre düsteren Zwecke mißbrauchen und damit schänden, und wir alle sollten uns dagegen empören, statt sie gewähren zu lassen und selbst nur Pappschilder und Phantasieflaggen hochzuhalten. 

Natürlich ist dieses Land nicht perfekt. Vieles ist im Argen, und leider wird von politischer Seite nicht der Reformwille erkennbar, der Not täte und den sich viele wünschen. Was uns aber guttäte, ist ein positives Selbstverständnis, die dankbare Wertschätzung dessen, was wir an unserer Vielfalt, unserer Freiheit und der riesigen Mehrheit, die sich zu ihr bekennt, haben, und der Wille, auf dieser Grundlage die Mißstände gemeinsam anzugehen. Das ist ein Narrativ, mit dem man auch manchen AfD-Sympathisanten wieder gewinnen könnte, denn es bedient nicht nur die Ratio, sondern berührt die Gefühlsebene, stiftet Identität und schließt alle Menschen ein, die sich darauf einlassen, egal, welche Farbe, Religion oder Liebesgewohnheiten sie haben. 

Genau diese emotionale Ebene ist nun mal in der Kommunikation das Zentrum unserer Entscheidungen. Wir überlassen sie als Spielwiese exklusiv der AfD und versuchen, mit Fakten in eine desparate Defensive zu gehen. 

Überdenken wir das!

Samstag, 6. Januar 2024

Typisch deutsch - ein Schimpfwort

Wie widerwärtig mir die Deutschen, meine eigenen Landsleute, zuweilen sind! Wie undiszipliniert, faul und einfallslos sie sich betragen; wie achtlos sie mit ihrem Alltag, ihrer Sprache, ihrem persönlichen Auftreten und ihrer Lebensgestaltung umgehen, diese nörgelnden, rechthaberischen Kleingeister ohne den geringsten Sinn für Güte, Schönheit und Großmut... Sie treiben dahin im trüben Strom konformistisch beturnschuhter Einheitlichkeit, ideologisch selbstgerecht, irgendwo haltlos im bequemen Mittelmaß dümpelnd, und halten sich in ihrer mißgünstigen Eitelkeit doch für so einzigartig, so individuell, sind so überzeugt von einer ihren Mitmenschen überlegenen Perspektive und Weltbeurteilung, daß ihnen keine Beleidigung zu niedrig, keine Herabwürdigung zu gemein und keine Zankerei zu sinnlos ist. Gerade so, wie sie es in leidenschaftlicher Fingerzeigerei auch diesem Absatz unterstellen werden. 

Diese Deutschen - das wohl einzige Volk der Welt, daß seine Nationalität als abwertenden Begriff oder gar als Schimpfwort gebraucht. Typisch englisch - darin spiegeln sich Stil, trockener Witz und stolze Tradition. Typisch französisch - das hat Klasse, einen immer leicht anzüglichen Genuß und selbstgewisse Lebensqualität. Typisch italienisch - da schmeckt man das gute Essen, hört die Musik und spürt die frohe Lust am Leben. Typisch deutsch hingegen - das beschreibt borniertes Beamtentum, kleinliche Besserwisserei und eifersüchtiges Beharren auf dem eigenen Recht, am liebsten gegenüber dem Nachbarn oder dem Menschen hinter einem in der Warteschlange. Und leider stimmt vieles davon sogar. 

Und doch vermag ich nicht, mir diese negative Konnotation des Wortes "deutsch" zueigen zu machen. Deutsch ist für mich auch und zuvörderst eine der bedeutendsten Kultursprachen der Weltgeschichte, in der sich nicht nur Goethe, Kant, Schopenhauer, Nietsche, Wagner, Marx, Freud und die Manns ausgedrückt haben, sondern auch Karl Valentin, Herbert Grönemeyer, Udo Lindenberg, Loriot und die Toten Hosen. Deutsch ist für mich die Romantik in ihrer besonders schwermütigen Spielart, die Sehnsucht, der Zweifel und das hoffnungsvolle Streben. Deutsch ist der Gerechtigkeitstraum vom Aschenputtel, die biedere Gutmütigkeit der Sieben Zwerge und die einsame Verlorenheit des Dornröschen. Deutsch ist ebenso die protestantische Glaubenstiefe eines Johann Sebastian Bach, der Widerstandsgeist eines Martin Luther oder die Unbeugsamkeit eines Dietrich Bonhoeffer wie die unerschütterliche Haltung der Scholls oder Graf Galens. Deutsch ist die Geheimnistiefe des Rheins, die Geisterhaftigkeit der nebligen Nordseeküste und die Märchenwelt der bayerischen Berge. Und deutsch sind auch die Verwirrungen, die hitzigen Übertreibungen und die daraus erwachsenen Untaten unserer Nation. 

Und eben drum möchte ich das Deutsche nicht als etwas Negatives sehen, sondern als ein besonders vielschichtiges Phänomen, in dem eine eigenartige Begabung zum Außerordentlichen in allen Richtungen liegt, zu wunderbarer Schönheit und ekelerregender Widerlichkeit, zu romantischer Güte und Seelentiefe wie zu faschistischer Brutalität und Pöbelhaftigkeit. Was wir heute in der Gesellschaft sehen, scheint mehr in die letztere Richtung zu deuten, und dieser Eindruck mag meinen verzweifelten Einstiegssatz erklären, der doch im wesentlichen ein Ausdruck enttäuschter Liebe ist zu diesem Land und seinen Menschen. 

Wir können aber auch anders, und es liegt an jedem einzelnen von uns und an uns als Gemeinschaft all derer, die friedvoll in diesem Lande leben möchten, es anders zu machen. Mit Güte und Großmut, mit Einfallsreichtum und einer wohldosierten Selbstliebe, die doch recht eigentlich erst zur Liebe an sich und zu allen befähigt.

Samstag, 2. September 2023

Was darf man denn noch sagen...?

Was man denn eigentlich noch sagen dürfe, ist eine derzeit vielgestellte Frage. Die Regeln für "korrekte" Ausdrucks- und Verhaltensweisen werden immer komplexer und scheinen sich zudem ständig zu ändern. Besonders gilt das für den Umgang zwischen Männern und Frauen. 

Es ist eine vertrackte Situation. Kultur und Natur geraten heutzutage in Konflikt. 

In der Natur des Menschen liegt nun mal, wie bei allen höheren Tieren, die Arterhaltung per Paarung. Dieses Konzept beruht auf einer grundsätzlichen binären Geschlechterverteilung. Dem Männchen obliegt meist die Rolle des Werbers, dem Weibchen die der Entscheiderin. Ob es uns gefällt oder nicht - diese Rollenverteilung prägt das Verhältnis der Geschlechter bis heute - nicht ausnahmslos, aber eben im Grundsatz. 

Früher spiegelte die soziokulturelle Ordnung genau diese Aufteilung. Heute kommt jedoch ein kulturelles Paradigma hinzu, das Männer und Frauen gleichstellt (was gut ist!) und diese Gleichstellung als Negation aller Unterschiede definiert (was zumindest fragwürdig erscheint). Damit wird jedoch der Umgang schwieriger, weil Elemente des Paarungsverhaltens tabuisiert werden. Kulturell wird eine Neutralität, eine Blindheit verordnet, die der Natur so nicht gegeben ist. 

Man verstehe mich nicht falsch: In vielen Kontexten ist das absolut wünschenswert und dringend geboten! Im beruflichen Umfeld etwa haben ungebetene Paarungsrituale nichts verloren, und überhaupt sollte jede Annäherung stets beiderseits gewollt und genehmigt sein. Klar ist aber auch, daß die damit einhergehende Verunsicherung, was denn nun natürlich gegeben und was kulturell verpönt ist, steigt. Und also halten sich Männer in gemischten Gruppen an das kulturelle Paradigma und geben in ihren Gesprächen unter sich dann halt auch mal der Natur nach. Und Frauen machen es vermutlich ebenso. 

Nur eine Analyse - keine Wertung. Man mag sich empören, daß bereits mein geschlechterbinäres Axiom falsch und skandalös und politisch unkorrekt und sozial konstruiert sei. Ich werde damit zu leben wissen und mich auf diese Diskussion, die ich für psychotisch halte, nicht einlassen. Aber letztlich erlebt man doch im Kern kaum etwas anderes als Balzverhalten, als den Versuch, das bunte Gefieder zu spreitzen und sich möglichst attraktiv zu machen. Dem ehrgeizigen Karrierestreben liegt (zumindest bei vielen Männern) allzu oft der Drang zugrunde, durch Macht, Erfolg und Ansehen andere Männchen zu übertrumpfen. Frauen mögen indes den Männern zeigen, daß sie das natürliche Machtgefälle von weiblich zu männlich (denn die Entscheiderin hat immer die Macht) auch im sozialen und professionellen Kontext beizubehalten vermögen. 

Die Natur ist eben doch in uns allen, so kultiviert und professionell sie sich auch inszenieren mag. Und so läuft denn doch alles auf ein in seiner Motivation recht schlichtes Beeindrucken, Gefallen und Überzeugen hinaus...

"Riesen-Ego, der Typ - echt geil!"

Es gibt Begriffe, die meinen Widerstand erregen. Wörter wie "Gewinner", "Erfgstyp" oder eben "Riesen-Ego". Denn sie beschreiben oftmals nichts anderes als Menschen, die ausschließlich auf ihren Vorteil, ihr Weiterkommen fokussiert sind. 

Was mich am meisten irritiert, ist, wie positiv diese Begriffe immer noch besetzt sind und wie fragwürdig wir offenbar Erfolg definieren. Mal abgesehen davon, daß meiner Erfahrung nach die besonders ehrgeizigen Zeitgenossen in Wirklichkeit gar kein großes, sondern ein eher kleines Ego haben, das sie durch gesellschaftlich anerkannte äußere Muster zu kompensieren versuchen, scheint mir der Egotrip, den sie dabei fahren, selten positiv. Zu wenig wird von solchen Menschen ans Gemeinwohl gedacht, in kohärenten, interdependenten Systemen, in Teams und Interessengemeinschaften, und zu sehr in brutaler Durchsetzung der eigenen Ziele. Und irgendwann hat man das, was oft als "toxic high-performer" beklagt wird. Rücksichtslosigkeit, auch wenn sie viel zu oft als (sehr vermeintliche) Stärke bewundert wird, sollte aber kein konstituierendes Merkmal dessen sein, was wir als Erfolg betrachten. 

Ich freue mich daher immer, wenn Menschen ihre Talente und Ambitionen in den Dienst eines höheren Ziels stellen, einer Gemeinschaft etwa oder eines Unternehmens, eines Teams und eines Kunden, oder eben der Gesellschaft an sich, und darin auch Förderung und Resonanz erfahren. Für solche positiven Erfahrungen bin ich dankbar, schaffen wir auf diese Weise doch genau die Grundlagen, die unsere Gesellschaft im Ganzen so nötig hat: Austausch, Verständnis, Respekt und Gemeinsamkeit! Diese Werte machen die Welt allemal besser als alle "Riesen-Egos" und "Gewinnertypen".

Donnerstag, 18. Mai 2023

Schweres Leben

Ein Gedicht vom 15. März 2007, 
gefunden in meinem damaligen Tagebuch

Das Leben ist mir viel zu schwer, 
ich glaube fast, ich will's nicht mehr. 
Verantwortung ist eine Last, 
die irgendwie nicht zu mir paßt, 
und wenn ich was entscheiden soll, 
dann bin ich stets des Zweifels voll. 
Enttäuschungen ertrag' ich nicht, 
weil's oft an Gleichmut mir gebricht, 
und glaub' ich an die gute Welt, 
werd' allzu oft ich bloßgestellt. 
Was andre klar und deutlich seh'n, 
ist für mich selten zu versteh'n. 
Das Leben, ist man nicht mehr klein, 
kann wirklich sehr ernüchternd sein. 
So leb' ich also meine Frist, 
bis endlich sie vorüber ist.

Mittwoch, 22. März 2023

Deutschland peinlich Vaterland

Eine höchst subjektive Verzweiflungsrede 

Deutschland wird mir peinlich. Das Land, in dem ich aufwuchs, das Exportweltmeister war, die beste Technologie produzierte und in manchen Zukunftsbranchen sogar den Weltmarkt führte, ist nicht mehr dasselbe. Seine Entwicklung ist in den 90ern steckengeblieben, seine Produktion ausgelagert, sein Potenzial an China verkauft, seine Infrastruktur veraltet, sein Schienennetz verrottet und seine Autobahnen kilometerlange Baustellen, auf denen nichts vorangeht. 
Warum? Weil es schon damals keine Strategie gab, sondern nur Selbstgefälligkeit. Weil man keinen Plan hatte für ein Morgen, in dem sich die Welt verändert, sondern sich ausruhte auf dem Heute, in dem es halt noch lief. Und sparte. Und verwaltete. Und nichts tat. 

Deutschland wird mir peinlich. Seine Bevölkerung, der man einst Fleiß, Erfindungsreichtum und Disziplin nachsagte, ist wehleidig und bequem geworden, mißgünstig und reizbar, und hat ihren Zusammenhalt längst dem Eigennutz geopfert. Seine Dynamik ist der Stagnation gewichen, seine Innovationskraft einer trägen, einfallslosen Bestandsverwaltung. Und einfallslos ist auch der ästhetische Rahmen, den sich dieses Land gibt. In der neoproletarischen Verachtung formaler Standards schwindet jede Lebensqualität, jeder Stil und alles Schöne; die trotzige und doch nur scheinbar individualistische Selbstbehauptung gegen jede vermeintliche Regel schafft die totale Einheitlichkeit einer schleißigen Sneakers-Jeans-Hoodie-Gesellschaft, in der Diversität und Vielfalt zwar gepredigt, Unterschiede jedoch verleugnet und letztlich sogar bekämpft werden. 

Zu diesem Land paßt auch seine Regierung, eine kleinkarierte Beamtentruppe, die phantasielos vorgefertigte Protokolle abarbeitet, keine Vision hat, kein großes Bild sieht und immer nur reagiert statt zu agieren, die kein Abweichen vom Trampelpfad kennt, jedes eigene Risiko scheut und niemals ein kühnes Brechen der Regeln wagt, wo es die Situation geböte - engstirnige Verwalter, wo es aufgeschlossene Macher bräuchte. Sie pflegen ihre bürokratische Mentalität statt auf Vereinfachung und Beschleunigung zu setzen, erfinden neue Gesetze, treiben die Überregulierung immer zu neuen Höhen und gängeln den letzten Rest Unternehmergeist aus uns heraus, wo Freiheit und Vertrauen unsere einzige Chance wären. 

Deutschland wird mir peinlich, und es beginnt mehr und mehr, mich zu empören und meine Duldsamkeit als Staatsbürger, Unternehmer und Vater zu strapazieren - in meinem Alltag wie auch im deutschen Beamtenapparat, der uns zu Tode verwaltet, unser Geld sinnlos verbrennt und nichts bewegt. 

Und das sage ich aus Liebe, aus dem unerregtem Patriotismus und dem glühenden, unbedingten Wunsch nach einer guten und lebenswerten Zukunft für dieses Land, alle, die friedvoll darin leben, und unsere ganze wunderbare Welt.

Sonntag, 5. Juni 2022

Der Antigeist

Zu Pfingsten feiert man bekanntlich die Ankunft des Heiligen Geistes, eines Geistes, der die Jünger nicht nur vollends mit der Lehre Jesu durchdrang, sondern ihnen zudem eingab, in fremden Sprachen zu sprechen, sodaß alle Völker sie in ihrer jeweiligen Muttersprache verstehen konnten. Wohlgemerkt – sie sprachen nicht plötzlich alle dieselbe Sprache! Von Vereinheitlichung ist hier nicht die Rede, sondern davon, in der wunderbaren Vielfalt das Gemeinsame zu finden. 

Wie anders unsere Zeit! Zwar wird Vielfalt auch heute allerorts beschworen, man schwenkt Regenbogenfahnen und feiert jede Abweichung von dem, was früher mal als (Achtung Triggerwarnung!) „Norm“ galt. Zugleich aber dürfen Unterschiede zwischen Menschen auf keinen Fall thematisiert werden! Den Taxifahrer mit dem rollenden Akzent – sei es auch aus philanthropischer Neugier und persönlicher Anteilnahme an den Lebensgeschichten anderer – nach seiner Herkunft zu fragen, ist ebenso rassistisch wie die Erweiterung des persönlichen Horizonts durch die Adaption fremdländischer Idiosynkrasien, die als kulturelle Aneignung geschmäht wird, ohne freilich den logischen Bruch aufzulösen, der einerseits Vielfalt und kulturelle Bereicherung und Beeinflussung predigt, andererseits aber die bloße Erwähnung von Eigenarten als xenophoben Übergriff anprangert. 

Doch könnte man über diesen hysterischen Zivilisationsschaden noch hinwegsehen, würde die Grundidee des Pfingstfestes heutzutage nicht auf noch viel gefährlichere und brutalere Art betrogen. Denn wo damals* die Vielfalt die Brücke zum Gemeinsamen schlug, dient sie heute der Abgrenzung, der Einteilung von Menschen in ein gutes und erstrebenswertes „Wir“ und ein bedrohliches, zu bekämpfendes „Die“. Nationalismen, Chauvinismen und religiöser Fanatismus sind weltweit auf dem Vormarsch; Unterschiede, die doch tatsächlich bereichernd und verbindend sein könnten, werden zur Ab- und Ausgrenzung mißbraucht, und der totalitäre Wahn erhitzt Menschen in immer mehr Ländern bis zu einem Grade, in dem sie für die psychotische Überzeugung, ihre Identität, ja ihre Existenz sei bedroht, zu töten bereit sind. 

Und all das geschieht keineswegs nur am abgehängten Bodensatz von Gesellschaften, in urbanen Ghettos und bildungsfernen Randgruppen, die ihre individuelle Perspektivlosigkeit durch kollektiven Ersatzsinn substituieren, sondern auch – und das ist besonders besorgniserregend – dort, wo politische Macht sich bündelt und über das Schicksal von Menschen, Ländern, Systemen und letztlich der Welt bestimmt wird, in Palästen und Regierungssitzen, in denen Bedrohungen beschworen und Kriege ange-Z-elt werden. Die Liebe zur Demokratie schrumpft, auch hier bei uns, und der Freiheitsbegriff wird von einer Freiheit von Bevormundung in eine Freiheit von Verantwortung, ja Freiheit von Vielfalt umgedeutet, die ein autoritäres System für viele so attraktiv macht. 

Es ist der Antigeist zu Pfingsten, der sich mit solch feindseligem Gifte in die Köpfe fanatisierter Menschen brennt, und ob man das heutige Christenfest nun für religiöse Glaubenswahrheit oder für einen kultischen Mythos hält, bleibt seine Grundidee doch valide: Die Vielfalt als Geschenk anzunehmen und in ihr die Einheit zu finden, die alle Menschen in Liebe und Respekt verbindet. Zumindest daran möchte ich glauben, und heute vielleicht noch ein bißchen inniger als sonst.


*Wenn ich "damals" sage, lasse ich die historische Akkuratesse außer Betracht; für den Grundgedanken sowohl des Pfingstfestes als auch der Lehre Jesu ist geschichtliche Tatsächlichkeit oder religiöse Wahrheit irrelevant.

Donnerstag, 17. März 2022

Willst du das?

Da stehst du nun in deinem Tarnanzug, das Gewehr in der Hand, den Helm auf dem Kopf, ein weißes Z auf dem zugigen Laster, der dich und die anderen hergekarrt hat wie Vieh. Tief in einem Land, das nicht deins ist, stehst du da und tötest Menschen, die dir nichts getan haben. Weil man es dir befohlen hat. Weil man dir erzählt hat, diese Menschen seien deine Feinde. Weil der neben dir genau das Gleiche tut. Vielleicht habt ihr ja Angst, es nicht zu tun. Aber willst du es? 

Willst du das wirklich sein? Ein Mörder? Ein Dieb? Ein seelenloser Henker, ein gefügiges Werkzeug eines fernen, reichen Tyrannen, dem dein Leben egal ist? Du hast doch mal so viel gedacht. So viel gewollt. Du hast von Liebe geträumt und vom Glück. Willst du jetzt wirklich, daß deine Taten als die grausamsten, meistverachteten Verbrechen dieses Jahrhunderts in die Geschichte eingehen? Willst du nichts erreicht, nichts bewirkt haben in deinem wertvollen Leben als Leid, Qual, Tod, Zerstörung und Haß? Willst du das wirklich? 

Willst du, daß deine liebe Heimat auf Jahrzehnte mit Mißtrauen betrachtet und ihr Name mit Verachtung ausgesprochen wird - wegen nur eines Menschen mit Wahnsinn im Kopf und Haß im Herzen? Willst du das wirklich? Oder möchtest du nicht lieber in die Welt tragen, was dein Land schön und großartig macht, seine Kultur, seine Seele, seine Schönheit, seine Liebe, die Güte seiner Menschen und den Beitrag, den es zum wundervollen Bild der Welt leisten kann? Möchtest du nicht lieber Menschen umarmen als sie zu töten? Möchtest du nicht lieber mit ihnen lachen, spielen und Wodka trinken, als sie zu Tode zu ängstigen, nur damit du deine eigene Angst nicht mehr so spürst? 

Du schießt. Ein Feind? Ein Kind? Eine Familie? Nichts mehr regt sich. Leben, Liebe, Hoffnung endet. 

Soldat, bitte frage dich: 
Was willst du wirklich?

Donnerstag, 24. Februar 2022

Lieber Herr Präsident...

...was treibt Sie um? Warum lodern Hass und Misstrauen so stark in Ihrer Seele? Warum leuchtet die Schönheit und Güte Ihres wunderbaren Landes so schwach aus Ihren persönlichen Taten hervor? 

Sie haben Macht, sehr viel Macht. Sie führen das größte Land der Welt und repräsentieren eine der wichtigsten Kulturnationen des Planeten. Sie könnten die Welt zu einem besseren Ort machen. Warum, möchte ich wissen, führen Sie Ihr Russland nicht zu einer Größe, die von allen geliebt und bewundert werden kann, die die Menschen inspiriert und beglückt? Warum schaffen Sie nicht Schönheit und Wohlstand, Wissenschaft und Fortschritt, Kultur und Liebe? Warum machen Sie Russland nicht zu einer Nation, deren Name mit Zuneigung und Dankbarkeit ausgesprochen wird, sondern setzen stattdessen auf Gewalt, Härte, Brutalität und Lügen? 

Herr Präsident, wir sollten weiter sein. Die Welt ist klein geworden, und ihre Probleme sind umso größer. Als Weltgemeinschaft haben wir Aufgaben zu bewältigen, die dringlicher sind als jedes nationale oder wirtschaftliche Interesse. Krieg und Alleingänge gehören nicht mehr in unsere Zeit; wir sollten es besser wissen. Noch nie, noch nie hat ein Krieg die Welt besser gemacht, die Menschen zufriedener und das leben schöner. Bitte lassen Sie Ihr Russland das sein, was es immer war - ein wertvolles und alles bereicherndes Mitglied der Weltfamilie! 

Gott erleuchte Ihre Seele.

Sonntag, 17. Januar 2021

Stunde der Patrioten

Ihr seid verärgert. Frustriert. Besorgt und wütend. Das verstehe ich. Die Welt ist komplex und unberechenbar, und oft genug läßt sie uns mit einem Gefühl der Ohnmacht zurück. Dazu Corona. Das Leben, der Alltag und die persönlichen Freiheiten sind eingeschränkt. Viele von Euch bangen um ihre wirtschaftliche Existenz und schultern erhebliche Belastungen durch Heimarbeit und Fernunterricht. Und ja, der Schlingerkurs der Regierung ist dabei ebenso unbefriedigend wie ihre undifferenzierten und oft genug konzept- und einfallslosen Maßnahmen. Ganz klar, daß man da Sorgen hat und sich wünscht, es sei endlich vorbei. Vielleicht sogar nur ein böser Traum und eigentlich gar nicht wahr. 

Und deshalb geht Ihr demonstrieren, füllt Straßen und Plätze, um dem Frust, den Sorgen und der Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Auch das verstehe ich irgendwie. Aber Ihr tut es ohne Masken, ohne Abstände. Dafür mit schwarz-rot-goldenen Fahnen und Transparenten, die von Corona-Diktatur sprechen, von Widerstand und Grundrechten und Freiheit. Und plötzlich fühlt Ihr Euch wieder stark statt hilflos, aktiv statt nur ausgeliefert, bestätigt statt verzweifelt. Ihr werft mit Beleidigungen um Euch, von denen „Schlafschaf“ noch die harmloseste ist, und bombardiert mich mit obskuren YouTube-Links, auf denen fragwürdige Autoritäten wahlweise erklären, warum Corona entweder nicht mehr als ein Schnupfen oder aber die teuflische Erfindung bluttrinkender Eliten ist. Die Gemeinschaft, der Zusammenhalt, der sich auf Euer Bedürfnis gründet, etwas zu gelten und Eure Geschicke wieder selbst zu lenken, schlauer zu sein als alles, was die Medien oder die Regierung oder das RKI oder der Maske tragende Nachbar sagen... das tut ohne Zweifel gut. 

Hier tue ich mich schwer mit meinem Verständnis, ja. Und schon gar nicht leuchtet mir ein, was an derart verdrehten Ansichten „patriotisch“ sein soll. Denn Patriotismus sollte doch die Liebe zum Vaterland sein, und damit die Liebe zur Gemeinschaft all derer, die in diesem Land leben und es gestalten, betreiben und nach vorne bringen. Die Liebe zu den Menschen, die die Gesellschaft bilden, in der wir gemeinsam leben. 

Jetzt wäre also die Gelegenheit, wahren Patriotismus zu zeigen! Indem wir nämlich als Gemeinschaft zusammenstehen und uns gegenseitig schützen, damit wir die elendige Pandemie endlich besiegen. Ja, das erfordert Disziplin, Kraft, Selbstlosigkeit, Einfallsreichtum und Organisation – alles Tugenden, für die wir Deutsche mal weltbekannt waren! Und heute? Fangen wir wirklich an zu zetern wie die zornigen Kinder, nur weil wir mal ein Jahr lang nicht mit Freunden ins Restaurant gehen können oder im Supermarkt eine kleine Maske vorm Gesicht tragen sollen? Sind wir wirklich so sinnentleert, daß ein Jahr ohne Fernreisen und Clubbing-Nächte uns in der Substanz unseres Lebens bedroht? Haben wir tatsächlich soviel Anstand, Mut und Gemeinsinn verloren, daß wir uns lieber eine wirre Scheinrealität schaffen, anstatt verdammt noch mal zu tun, was immer wir können, um aufeinander aufzupassen und uns der gewaltigen Herausforderung zu stellen, die nur gemeinsam bewältigt werden kann? Nein! Selbstverständlich können wir das. Deutscher zu sein – das wurde einst mit Qualität, Effizienz und Disziplin assoziiert. Und so gehört es sich auch. 

Dies ist die Stunde der Patrioten. Seid da für unser Land. Tragt die dämliche Maske, auch wenn sie nervt und lästig ist. Steht ein für unsere Alten, unsere Schwachen, unsere Bedürftigen, die Ihr schützen und retten könnt. Unterstützt die Helden, die in unseren Krankenhäusern, unseren Pflegeheimen und in unserer Forschung jeden Tag Übermenschliches vollbringen, um uns gesund zu halten. Laßt uns diese Pandemie endlich besiegen, als Patrioten, als Deutsche, als Europäer, als Bürger eines Landes, auf das man mit Stolz schauen kann, und von dem die Welt vielleicht eines Tages sagt: Schau an, die haben das gut hinbekommen. 

Typisch deutsch halt.

Samstag, 3. Oktober 2020

Ein Festakt

Da ist er nun, der Tag der Deutschen Einheit. Zum dreißigsten Male jährt sich heuer die friedliche Wiedervereinigung meines Landes, jener schwierigen, geliebten Heimat, die mich hervorgebracht und geprägt hat, und damals wie heute beglückt mich dieses historische Ereignis zutiefst. Ich habe ein schwarz-rot-goldenes Fähnchen rausgehängt; recht einsam flattert es da im Schwabinger Wind. Nur ein einziger Nachbar in unserer Straße bekennt ebenfalls Farbe. Schade, dieses Unverhältnis der Deutschen zu ihrer Nation und ihren Symbolen. Beim Fußball, ja, da können sie plötzlich flaggen. Aber wo wahrlich Grund zu Freude und Stolz herrscht, regt sich kaum etwas im deutschen Gemüt. 

Im Fernsehen läuft ein Festakt. Herrje, das Feiern ist der Deutschen Sache nicht. Irgendwo zwischen aufgesetzter Feierlichkeit und gezwungener Lockerheit erstarrt, wird durch hölzern aneinandergereihte Beitrage moderiert. Das Video mit dem Staffelholz ist nett, erschließt sich aber nicht ohne weiteres, und die Bilder sind nicht halb so schön und ergreifend wie etwa die Einspielungen, mit denen der ORF das Neujahrskonzert spickt. Die Reden überraschen kaum; auch wenn an ihnen inhaltlich nichts falsch ist, fehlt ihnen doch die Leidenschaft und die visionäre, einende Kraft. Alles eher mahnend in so einem süß-sauren "Nun freut euch doch mal (aber paßt auch auf)!"-Ton. 

Der Bundespräseident spricht davon, daß Schwarz-Rot-Gold unsere Farben seien, die Farben der Freiheit, und daß wir sie nicht von Spaltern und Hetzern usurpieren lassen dürfen - sehr richtig! Aber warum findet sich dann auf der Bühne keine deutsche Fahne? So ganz selbstverständlich, wie etwa die Amerikaner das machen. Gewiß, das Lichtspiel greift die Nationalfarben auf und malt das exquisite Publikum rot wie eine Kunstinstallation in einer verwaisten Kathedrale, aber die Gelegenheit zu zeigen, daß genau diese unsere Fahne physisch-real zu unserer Republik und ihren Feiertagen gehört und eben nicht ausschließlich mit Fußballspielen oder AfD-Demos zu assoziieren ist, wurde - wie eigentlich immer - zuverlässig verpaßt. 

Dann die Musik. Roland Kaiser, nun ja, der weckt natürlich auch bei mir nostalgische Gefühle. Aber geht es heute um westdeutsche Achzigerjahre-Nostalgie? Ein wenig Mark Forster, klar, für die Jüngeren und so, Anna Loos auch, und, natürlich, das Deutsche Filmorchester Babelsberg, denn wir sind ja in Potsdam. Alles in allem ein etwas trauriger, ein ziemlich einseitiger Querschnitt durch das, was Deutschland kulturell zu bieten hat. Eine Feier ohne Witz, ohne Stolz, ohne Humor und ohne Hochgefühle. Schade. 

Sehr schön fand ich vor allem zwei Dinge: Daß unser Ex-Kanzler und Putin-Spezi Schröder zwar begrüßt, aber niemals gezeigt wurde (war er überhaupt da?), und die Nationalhymne am Ende – in ihrer Urform als Streichquartett. So mag ich sie am liebsten. 

Für mich bleibt's trotz der steifen Zelebration ein Freudentag. Und so wünsche ich meinen deutschen Landsleuten und allen, die in diesem großartigen Land leben, einen fröhlichen und entspannten Tag der Deutschen Einheit, einen Tag der Dankbarkeit für die Freiheit und den Frieden, den wir haben, einen Tag, der die Einigkeit stärkt und die Spalter und Hetzer verstummen läßt, und einen Tag, an dem wir uns bewußt werden, wie unvergleichlich gut wir es allen Schwierigkeiten zum Trotze hierzulande haben. Laßt uns die Unannehmlichkeiten dieser Zeit gemeinsam in Kauf nehmen und unsere Rücksichtnahme, unsere Solidarität miteinander zum Ausdruck dessen machen, was wir in der ersten Zeile unserer Nationalhymne besingen: zum Ausdruck also der Einigkeit, des Rechts und der Freiheit, auf daß wir alle im Glanze jenes Glückes blühen, das wir uns gegenseitig ermöglichen.  

Alles Gute, Deutschland!

Dienstag, 18. August 2020

Mein Platz

Was mich am meisten nervt an der Pandemie, sind nicht die Masken, auch wenn sie lästig sind. Es sind auch nicht die Covidioten, auch wenn ich es grotesk finde, wenn sie mit Schwarz-Rot-Gold herumlaufen und damit eine Gemeinschaft beschwören, auf die Rücksicht zu nehmen sie sich jedoch eines egozentrisch definierten Freiheitsverständnisses wegen weigern.

Nein, es sind diese Schilder, die heutzutage an vielen Gastronomien zu sehen sind: "Wir zeigen Ihnen Ihren Platz!" Nee, möchte ich sagen, das tut Ihr nicht. Denn meinen Platz kenne ich. Geographisch, familiär, sozial und beruflich. Da brauche ich keinerlei Nachhilfe von einem Oberkellner. Ihr dürft mich jedoch zu meinem Tisch geleiten, das wäre nett, denn natürlich müssen wir alle zusammenhalten und die Regeln beachten, um dieses dämliche Virus in den Griff zu kriegen und uns gegenseitig zu schützen. Weil so nämlich Gemeinschaft geht. Schwarz-Rot-Gold und so.

Die ordnende Zuweisung eines Tisches, die kann man anders kommunizieren. Nett und respektvoll. Worauf ich jedoch ganz empfindlich reagiere, ist, wenn mir jemand meinen Platz zeigen will. Daran haben sich wahrlich schon andere die Zähne ausgebissen.

Dienstag, 4. August 2020

Ein Nachruf

Ein Nachruf - ja! Nachrufen möchte ich Dir: Geh nicht weg! Sei noch da! Wir haben so viel versäumt. So viele Gespräche, die wir nicht geführt, so viele Erlebnisse, die wir nicht geteilt haben. Weil es so lange her ist, daß wir uns gesehen haben. So viele Jahre, seit Du den Kontakt abgebrochen hast. Und ich habe es verstanden. 

Du warst so schrecklich verliebt in mich. Es war offensichtlich. Und einmal hast Du es mir gesagt. Damals auf dem Balkon, irgendwann nachts, champagnerselig, während im Saal der Hausball rauschte. Ich fand das unglaublich süß. Aber da konnte ich nichts machen. Ich liebe halt anders als Du. Und Du wußtest das ja auch. 

Herrje, der Tag, an dem Du mich feierlich und geheimnisvoll zu Dir gebeten hast, in Dein kleines Dachzimmerchen, das so voll war mit Büchern und CDs. Herumgedruckst hast Du, um die richtigen Worte ringend, wie es doch sonst nicht Deine hocheloquente Art war, und auf den verschlungensten Wegen hast Du Dich schließlich zu Deinem großen Bekenntnis vorgekämpft, dem Geheimnis Deiner Homosexualität, das ich doch längst kannte. Ein wenig habe ich wohl den dramatischen Bogen ruiniert als ich auf dem Höhepunkt Deiner Offenbarung nur sagte: Ja und? Das weiß ich doch. 

Das hat Dich ein wenig erstaunt, nicht wahr? Für einen Moment warst Du aus dem Konzept gebracht. Und dann erzähltest Du mir, merklich erleichtert, wieviel Angst Du vor diesem Gespräch, diesem Geständnis gehabt hattest. Schließlich hatte nicht jeder Deine Art zu lieben mit so viel Wohlwollen aufgenommen; Deine Mutter, so erzähltest Du, habe sich gar "vor Kummer in den Dahlien gewälzt" - eine Formulierung, die ich heute noch verwende. Und immer muß ich dabei an Dich denken und lächeln. 

Himmel, Du warst also schwul. Es gehörte für mich zu Dir wie Deine Liebe zu Wagner oder Hofmannsthal, wie Dein Siegelring und Dein vornehmer nordfriesischer Akzent. Und es schien mir durchaus liebenswert, wenngleich ich dieser Neigung nichts anzubieten hatte. Was mir leid tat für Dich, aber eben nicht zu ändern war. 

Weißt Du, ich kenne unerfüllte Liebe. Ich habe sie selbst lange erdulden müssen. Und es tut mir leid, Dir solchen Herzschmerz verursacht zu haben. So viel davon, daß Du es irgendwann vorzogst, den Kontakt ganz abzubrechen. Ich verstehe das. Aber Du fehltest mir von da an. Alles an Dir. Alles, was uns verband. Unser serpentinenhafter, holpriger Lebensweg, der uns beide von der Juristerei zur Literatur und dann irgendwann in ganz neue Bereiche geführt hatte, und auch unsere seelische Verwurzelung in einer anderen Zeit... 

Schön war's damals in Heidelberg. Eine Zeitlang bist Du bei uns ja fast zu Hause gewesen; wir haben stundenlang über Literatur gesprochen, Opern gehört oder Viscontis "Ludwig" angeschaut. Du warst so unglaublich klug, so belesen und bereichernd... und dabei so warmherzig, so empfindsam und seelenvoll. Ich hatte Dich gern als Freund, weil ich mich endlich verstanden und einfach ein bißchen weniger allein fühlte in meiner Sehnsucht nach dem Schönen und Guten in dieser immer häßlicher werdenden Welt. 

Heute ist Dein Geburtstag. Seit Deiner, ich nenne es mal "Trennung" von mir denke ich jedes Jahr an diesem Tag an Dich. Und jedes Jahr habe ich mir vorgenommen, Dich anzurufen. Zu hören, ob es Dir gutgeht. Und zu schauen, ob sich diese besondere, bereichernde Freundschaft nicht doch erneuern ließe. Und jedes Jahr habe ich es nicht getan. Aus Respekt vor Deiner Entscheidung. Aus Angst, alte Wunden aufzureißen. Und vielleicht ein wenig aus dem Glauben heraus, wir hätten ja noch ein ganzes Leben lang Zeit. Wie töricht.

Auch heute habe ich an Dich gedacht. Und heute, ja, heute war ich soweit, heute habe ich beschlossen, es allen Bedenken zum Trotze zu wagen und Dich anzurufen! Was soll's denn, dachte ich - es sind nun fast 20 Jahre! Und also suche ich in freudiger Erregung, im herzpochenden Wagemut des Neubeginns nach Deinen Kontaktdetails. Und finde Deinen Nachruf. 

Du bist gestorben. Sehr schnell. Sehr unerwartet. Und viel zu früh. Himmel, Karl, Du bist ein Jahr jünger als ich! Wie kannst Du seit vier Jahren tot sein?! 

Ich habe Dich verpaßt. Wir uns. Die letzten beiden Jahre Deines Lebens haben wir sogar in derselben Stadt gewohnt. Wie unser alter Lehrer übeigens, wußtest Du das? Wie einfach hätte es sein können! 

Ich bin so unendlich traurig. Nun werden wir uns niemals wiedersehen. Keine Gespräche mehr über Richard Strauß und Hugo von Hofmannsthal. Keine kurze, süße gemeinsame Flucht vor der häßlichen Gegenwart in jenes Reich, das nicht von dieser Welt ist und uns doch so innig verbunden hat... 

Danke Dir. Danke für Dich, für die Impulse und Perspektiven, für Dein Vorbild und Deine Liebe. Ich werde Dich niemals vergessen.