oder: Der Faschismus als natürliche Lebensform?
Wer den Maria-Theresien-Platz in Wien kennt, weiß, daß sich hier das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museum gegenüberstehen, zwillingshaft gleich und doch ins genaue Gegenteil gespiegelt. Kunst und Natur als einander ergänzende Gegensätze bilden sich in dieser Architektur ab, und beide, so das Verständnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts, unterliegen der Herrschaft des Menschen.
Liest man also die Kunst als Ausdruck des menschlichen Anspruchs, die Natur der Welt zu kultivieren, dann entstehen zwei Ebenen - eine grundlegende Ebene der Natur, aus der alles kommt, auf der alles fußt, und die nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, und eine darüber gelagerte Ebene der Kultur, die sich aus der ersteren herausformt und damit den ästhetischen, aber auch den praktischen, politischen, zivilisatorischen und logistischen Bedürfnissen des Menschen dienlich ist. Auf dieser Ebene ist unser Gemeinwesen organisiert. Hier finden sich unsere moralischen und gesetzlichen Regeln, unsere Umgangsformen und Manieren, unser künstlerischer Ausdruck, unsere Debatten und Diskurse, unser soziales Gefüge und unsere Vorstellungen von Anstand und Ordnung. Kultur - das ist in erster Linie Maß, Proportion und Gleichgewicht, eine ausgewogene, bewußte Gestaltung des Seins von apollinischer Schönheit.
Nun ist es für in diesem Sinne kultivierten Menschen schwer, sich dem Eindruck zu verweigern, daß genau diese Ebene unseres Seins zunehmend erodiert. Die Diskurse verrohen, die Manieren verlieren an Bedeutung (und eben jener Verlust, etwa beim Wegfall jeder Kleiderordnung, wird von manchen sogar als große Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen gefeiert), Kunst wird repetitiv, Anstand zur Interpretationssache, und die soziale Ordnung ächzt unter den Spannungen, die ihre immer extremeren Ränder verursachen. Der Mensch wird lauter und gröber, und das Ideal der starken, unerbittlichen Führung erlebt eine gruselige Wiedergeburt.
Aber warum? Freilich kann man das alles psychologisch ergründen - eine unbeherrschbar gewordene Welt, in der eine aus selbstsüchtiger Gier übermäßig geschundene Natur extreme Reaktionen zeigt, politische Ungewißheit überall, Kriege und Pandemien - zu viele Krisen, in denen sich der Mensch nach einfachen Antworten sehnt und jenen folgt, die sie versprechen.
Aber auch das ist eine zu einfache Antwort. Ich frage mich zuweilen, ob wir nicht einfach kulturmüde sind. Ob wir einen seit 75 Jahren wildwuchernden Freiheitsbegriff nicht an einen Punkt haben gelangen lassen, an dem Freiheit vor allem als Freiheit von Zwang und Verantwortung verstanden wird. Als Freiheit von allem, was nicht in unser bequemes Selbstbild paßt. Denn Kultur ist immer auch Selbstzwang. Wenn ich mir zum Beispiel für eine Hochzeit bei 32 Grad einen Morning Coat anziehe, dann tue ich mir um des gesellschaftlichen Kodex' und des Gesamtbildes der Veranstaltung willen einen Zwang an - schon aus Respekt vor dem Brautpaar und der Festgemeinschaft. Der Wirkungshorizont meines Verhaltens erweitert sich über meine eigenen Bedürfnisse hinaus zu einem Teil des sozialen Ganzen. Natürlich gibt es da heutzutage auch welche, die ohne Rücksicht auf solche Erwägungen in kurzen Hosen kommen - "weil das ja bequem ist und sie eh machen dürfen, worauf sie Lust haben." Das sind die Menschen, die mir dann ganz gern raten, doch mal "locker" zu sein. Aber ihren Respekt vor der kulturellen Erhabenheit des Anlasses, den Respekt vor dem apollinischen Gesamtbild legen sie damit ab.
Diese schleichende Dekultivierung, die stufenweise Verrohung in allem, die Menschen, die sich auf der Straße wegen irgendwelcher Petitessen anschreien, der Groll, mit dem in den sozialen Netzwerken beleidigt, beschimpft, gelogen und gelästert wird, und der befreiende Rausch, mit dem man die eigene Weltanschauung herausbrüllt, weil man sich durch Gleichgesinnte bestärkt fühlt - all das wirkt auf mich viehisch. Der Mensch reanimalisiert sich, streift seine Kultur ab und löst Konflikte nach dem Recht des Stärkeren, Lauteren, Brutaleren. So wie es die Natur macht.
Eben jenes Überleben des Stärkeren ist indes das Wesen des Faschismus. Das tumbe Mitlaufen in der bequemen Verantwortungslosigkeit, die brutale Ausgrenzung alles Artfremden, die Abwertung schwachen Lebens als lebensunwert, die bedingungslose Führung des Starken und die blinde Gefolgschaft der Masse, das verantwortungslose Mitlaufen in einem ausschließlich auf Selbsterhaltung und Durchsetzung bedachten Gefüge - all das sind faschistische Prinzipien und haben mit apollinischer Balance nichts mehr zu tun. Wenn lächerliche Männchen mit bartlosen Hängebacken von der Wiederentdeckung der Männlichkeit faseln, dann ist damit nichts anderes gemeint als eben jenes Überleben des Stärkeren, dessen Selbstbehauptung in der Welt auf Rücksichtslosigkeit, Kampf und Sieg beruht.
Der Faschismus, so möchte man sagen, ist der Versuch, die menschliche Gesellschaft zu renaturalisieren, oder im Umkehrschluß: das Wesen der Natur, auch der menschlichen, ist im Grunde eine faschistische Ordnung.
Eine These, die angst macht. Tiefe Sorge und nackte Panik hervorruft. Denn in ihr schwingt etwas Unausweichliches mit, etwas Deterministisches. So als ob jede Phase kultureller Eindämmung der natürlichen Triebe irgendwann unter deren Druck wieder enden und ihnen neuerlich Raum geben muß, weil Instinkt eben doch wirkmächtiger ist als Vernunft, und der Trieb tiefer wurzelt als alle Erkenntnis.
Und so schaue ich hin und her zwischen dem Kunsthistorischen und dem Naturhistorischen Museum und frage mich, warum uns der Ausgleich zwischen Natur und Kultur nicht gelingen will. Warum wir entweder in kultivierter Form erstarren oder uns rauschhaft dem ewigen Kampf der Natur hingeben, nach dem das Tier uns uns lechzt. Warum die apollinischer Balance nicht im Gleichgewicht bleibt und uns zu befriedigen oder gar glücklich zu machen vermag.
Frag's mich und habe keine Antwort.