Eine Selbstanalyse
„Ich möchte den Menschen sehen, der ist“, sagt sie, „nicht den, der geworden ist. Nicht das perfekt inszenierte Bild, das du mir zeigst.“
Seltsam, wie tief mich diese Worte treffen. Verletzen. Denn ich habe sie schon einmal gehört, vor langer Zeit. Sie berühren einen sehr alten, sehr wunden Punkt. Aber das kann sie natürlich nicht wissen. Sie hört nicht, wie mein Herz bricht, an derselben alten Stelle. Tief unter dem Bild, das sie von mir hat. Und das sie für inszeniert hält.
Aber ich höre es. Höre tief in mich hinein. Suche den Menschen, der ist unter dem Sediment lebenslangen Werdens. Und finde, wie immer – nichts.
Ist es überhaupt möglich zu sein, ohne geworden zu sein?, möchte ich ihr reflexhaft entgegenwerfen. Ist nicht schon das Neugeborene durch eine neunmonatige Erfahrung von Herz- und Atemgeräuschen, Stimmen, Hormonen, Nährstoffen und Gefühlen gegangen, durch den gedämpften Hall des mütterlichen Alltags? Die anstrengende Geburt und den ersten Schrei in der grellen Kälte? Wurden wir nicht alle spätestens in jenem Moment?
Aber ich weiß ja, was sie meint. Und ich will ihr nicht ausweichen, indem ich den Sinn ihrer Worte durch derlei Spitzfindigkeiten verzerre.
Wieder einmal suche ich ihn in mir. Den Menschen, der ist. Denn jetzt hat sie mich neugierig gemacht. Buchstäblich: gierig auf Neues. Denn da, in mir, ist nichts. Und war nie etwas. Nichts, was ich je gespürt hätte. Nichts, was je einfach nur war. So ganz ohne Werden. Ohne Suchen. Nichts, das es auch nur verdient, mit „ich“ bezeichnet zu werden.
Andere tun sich da leichter. Andere, die ganz hier sind. Die sich mühelos konkretisieren in diesem Leben. Ich habe sie stets bewundert. Schon im Kindergarten: da waren kleine Menschen, die genau wußten, daß sie sind. „Ich“ sagten sie. Ganz überzeugt von der Bedeutung dieses Wortes. Und ich spürte sie. Nahm ihr Selbstbild wahr, ihr Stärke, ihre Echtheit. Aber auch ihre Sehnsucht, ihre Schwäche. Jedes Gefühl der Welt schien in mich hineinzufließen. Mein Reich hingegen war irgendwie nicht von dieser Welt. Und auch heute sehe ich Menschen, die ihre Identität messerscharf ausdefiniert haben – aus dem Seienden ganz folgelogisch zum Gewordenen. „Verwirklicht“ ist das Wort, das sie verwenden. Und es trifft: Das, was sie sind, in dem zu verwirklichen, was sie werden – das schaffen sie. Mir bleibt dieses Gefühl fremd. Denn ich bin ja nicht.
Das, was sie Bild nennt, ist auch für mich selbst nicht leicht überwindbar. Für meinen Blick in mich selbst. Denn mehr als dieses Bild habe ich nicht.
Ich horche weiter. In mich. Auf andere. Suche. Frage.
Und plötzlich ist da doch etwas. Sehr schemenhaft, sehr schwer greifbar. Ein Ahnen, mehr nicht. Ein Anhauch von universellem Sein, von Herkunft und Zugehörigkeit und Rückkehr. Leise und tief in meiner Seele flirrt es, webt sich hinaus ins Unendliche, oder von dort in mich hinein. Und das ist das Selbe, denn das Unendliche hat keine Richtung. Es zieht an mir, bindet mich. Läßt sich nicht benennen. Viel zu allgemein, viel zu wenig konkret, um daraus eine individuelle Substanz für mich selbst zu machen. Eine Wesentlichkeit. Für den Menschen, der ist. Im Gegenteil – es „enticht“ mich. Denn es gehört mir ja nicht. Sondern allem.
Einsam macht dieses Ahnen. Kaum jemand, der es spürt. Kaum jemand, der das schreckliche Alleinsein im Unendlichen mit mir teilt. Bis heute.
Je mehr ich mich auf sie eingelassen habe, meine Ahnung des Universellen, um Identität und Sinn in ihr zu finden, desto mehr hat sie mich isoliert. Wie paradox – das Universelle, das mich vereinzelt. Das Große, das mich verkleinert. Das Allgemeine, das mich von den Menschen trennt. Gefühligkeit. Traurigkeit. Schwermut.
Das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes. Mehr wiegt eben schwerer. Wer viel ahnt von der Unendlichkeit des Seelenseins, der trägt eben schwer. Spürt das schlafende Lied in allen Dingen. Sehnt und strebt. Das Leben wird größer. Schwerer. Aber eben auch größer. Depression? Das sagt man heute viel zu schnell. Darin klingt Niedergedrücktheit.
Nein, meine Schwermut war nie depressiv. Aber Sehnsucht lag darin. Wenigstens zu verstehen, was da ist. Einen Begriff, eine Idee, irgendetwas Greifbares. Das in diese Welt einzuordnen ist. Und mich in diese Welt einordnen könnte. Aber das hatte ich nicht. Ich war nur einsam. Zu fremd, zu fern dieser Welt, um in ihr zu bestehen.
Also griff ich nach ihr. Der Welt. Schuf mir Substanz aus dem, was mich umgab. Worin Sein lag. Worin ich Abbilder des Erahnten erspürte.
Die Weisheit und der Anstand meines Großvaters. Die Liebe meiner Mutter. Die Geborgenheit des großelterlichen Paradiesgartens, in dem die restliche Welt nicht galt. Eine Zwischenwelt, ein Tor zu dem, was ich im Ganzen ahnte.
In allem aber war eines fühlbar – Liebe. Eine Liebe, die ich als Widerhall des Unendlichen, des unsichtbar Universellen und ewig Gültigen spürte. In allem. Und in mir.
Wer viel Liebe hat, braucht viel Kraft. Liebe ist anstrengend. Nur, wer unendlich viel davon hat, wird nie erschöpft sein. Bald spürte ich sie überall. In Kunst und Kultur, dargestellter Schönheit als unvollkommenes Abbild der unergründlichen, grenzenlosen Schönheit des Seins. In virtuosem Handwerk, im Schöpfergeist und der Hingabe des Meisters an sein Werk. In Bildung und Wissen, in dem sich eine wesensgleiche Miniatur des universellen Bewußtseins herausbildet. Im Sex, in der körperlich-intimen Begegnung, weil sie – neben der Musik – das ist, was im Weltlichen der Verschmelzung mit dem universellen Sein, der vereinenden Begegnung von Seelen am nächsten kommt. Wenn man sie denn in dieser Dimension zu erleben vermag. Nur wenige Seelenbeziehungen verdienen diesen besonderen Ausdruck von Nähe, die mit schnellem Spaß oder viehischem Trieb freilich nichts zu tun haben kann.
Der Ahnung auf die Schliche kommen. Sie echt und erlebbar machen. Zu einem Wesenskern meines Daseins. Das wurde mein Lebensziel.
Ich schaue mich an. Mein Spiegelbild. Das Ahnen, Suchen, Zweifeln, Sehnen. Heimlich überfordert von den Wirkmechanismen der Welt. Nicht wirklich fähig, dieses erdige, grobe Leben ganz und gar zu leben. Voller Sehnsucht, anzukommen. Angenommen zu werden von dieser Welt. Und sie zugleich scheuend.
Der Mensch, der ist. Er muß Teil von ihr werden. Sich verstecken, inszenieren in dem, was die Welt begreifen kann. Um sich dann wieder zu öffnen. Ganz zu zeigen. Sehr wenigen gegenüber. Die sich die Zeit nehmen.
Die Begriffe verschmelzen mir zu etwas Unendlichem. Das ich nie ganz begreifen kann. Liebe. Sehnsucht. Schönheit. Lust. Vollkommenheit, Ewigkeit. Sein. Alles wird mir eins. Ich suche nach Gleichgewicht. Harmonie. Nach Entsprechung des Innen und des Außen. Mein unendliches Seelensein und mein beschränktes Weltleben, ausbalanciert auf dem Lagerpunkt universeller Liebe. Einer Liebe, die beiden Seiten gilt. Und sie vereint. Ich möchte der Liebe ein Ziel geben.
Nicht ich zähle hier, sondern das Maß, in dem ich die universelle Liebe, die mich durchfließt, in der Hiesigkeit verwirkliche. Auch das macht einsam.
Was der Mensch, der ist, wirklich ist? Ich kann es immer noch nicht sagen. Aber ich kann aus dieser Ungewißheit, dieser Weltferne einen guten Lebensentwurf machen. Für mich und für andere.
So ist das Bild, das perfekt inszenierte Bild, das sie sieht, eben nicht irgendein Bild. Es ist nicht einmal inszeniert. Inszeniert ist nur der Schein, der keine Entsprechung, kein Fundament im Sein hat. Mein Bild ist nicht so. Sondern es ist unvermeidbar entstanden, erwachsen aus mir. Aus dem Menschen, der ist. Und den es abbildet.
„Ich möchte mich nicht auf dich einlassen“, sagt sie, „ich suche Menschen, denen das Äußerliche, die schönen Dinge, der schnelle Spaß egal sind.“
Widerspricht sich das nicht? Wie gelange ich denn in jemandes Tiefe, jenseits der Oberfläche, wenn ich mich nicht einlasse?
Schneller Spaß. Falscher könnte sie mich wohl nicht deuten.
Universelle Liebe. Die Sehnsucht nach völliger Einswerdung im Rahmen des weltlich Möglichen. Nach Rückkehr ins Ganze, Auflösung im Ewigen. Nach Verstehen. Verstanden werden. Annehmen. Verschmelzen in einem Moment der Unendlichkeit. Das trifft es wohl eher.
Schöne Dinge. Ja, die machen mir Freude, keine Frage. Aber nie um ihrer selbst willen. Nicht als Statussymbole. Wie lächerlich wäre das!
Sie machen mir Freude, weil sie ihrerseits Ausdruck von etwas Höherem sind, dem Streben nach Perfektion, nach Schönheit, nach dem Edlen, Ungewöhnlichen, ein bißchen Überirdischen. Die Kunst. Das Handwerk. Weltenthobenheit. Eskapismus. Und weil es mir Freude macht, andere daran teilhaben zu lassen. Schöne Erfahrungen zu ermöglichen. Und sie zu teilen.
Aber ja, ich verstehe die Mißverständnisse. Und daß ich bei manchen Klischees bediene, über die ich selbst nur den Kopf schütteln kann.
„Worte sind das eine“, sagt sie, „sich zeigen das andere. Und bei dir spüre ich die Brücke nicht. Daher ziehe ich mich zurück.“ Und geht.
Es passiert mir öfter, daß ich zur Projektionsfläche für Dinge gemacht werde, die gar nichts mit mir zu tun haben. Mit einer Hartnäckigkeit werden sie mir angeklebt, die mich bestürzt. Und gegen die ich mich nicht wehren kann. Denn ich habe noch keinen Weg gefunden, diesen Zwiespalt aufzulösen. Die Brücke zu schlagen.
Worte seien das eine. Nein. Für mich nicht. Für mich sind Worte alles. Ich habe sie früh geliebt. Sie mir zueigen gemacht, sie ergründet und geschliffen, gesammelt und gehegt. Sie sind meine einzige Chance. Die einzige Möglichkeit, in Austausch zu kommen mit der Welt, mit den Menschen. Und verstanden zu werden. Holprig, lückenhaft und stümpernd auszudrücken, zumindest anzudeuten, was ich ahnend in mir, im Seelensein spüre. Ich möchte verstanden werden. Es geschieht selten.
Wie schade, wenn Menschen freiwillig so viel verpassen. Weil sie lieber projizieren und imaginieren als hinzusehen. Schutzbehauptungen ängstlicher Schwäche. Oder kalten Eigennutzes. Was weiß ich.
„Du zeigst der Welt ein Bild“, sagt sie, „und mit diesem Bild kann man bestimmt eine tolle Zeit verbringen. Aber ich will das nicht mehr.“
Eigentlich lernt man mich recht schnell kennen. Mich. Dieses liebende Sehnen nach dem Schönen, Großen, das sich nie konkret gefunden hat, sondern ein bißchen traurig und verzweifelt umherirrt und irgendwo einen Widerhall sucht. Vielleicht sogar etwas, das ich in der Begegnung mit anderen „ich“ nennen darf. Aber ganz decken wird sich das bei mir nie. Und so bleibt der Mensch, der ist, immer nur in dem erkennbar, was er geworden ist.
Ja, ich bin weltlicher geworden in den letzten Jahren. Dem Anschein nach. Seit Kurzem lasse erstmals bewußt auf die Wirkmechanismen der Welt ein. Habe mir einen Platz geschaffen, den ich aushalte. Aus Verantwortung. Weil ich nicht mehr nur für mich leben und planen kann. Sondern für meine Tochter. Manchmal ist die Versuchung groß, mich hinter mir zu lassen. Also mein echtes Ich. Das Ich, das sucht und Angst hat und nicht recht hierher gehört. Mich ganz dem Weltlichen hinzugeben. Eine Ersatzidentität zu schaffen im Hier und Jetzt. Die verstanden wird. Und anerkannt. Wie so viele das so erfolgreich tun. Aber ich kann das nicht. Die Rolle bleibt unzureichend. Sie ist nicht unauthentisch. Aber bildet eben nur einen Bruchteil von mir ab. Eisberghaft.
Dünnes Eis. Was ich darstelle, wirkt auf die Außenwelt sehr viel überzeugender als es für mich selbst ist. Nie bin ich ganz davor gefeit, in mich zurückzufallen. Meinen Platz intuitiv und lustvoll zu sabotieren.
Dabei habe ich Glück. Für mein Weltleben darf ich Dinge tun, die ich gern tue. Und die wiederum eine Brücke schlagen zum Großen, Universellen, Schöpferischen. Zum Ahnen, das zu skizzieren und abzubilden mir mein Gewordenes ermöglicht. Zur Liebe, die ich dazu nutze, Menschen zu helfen.
Der Mensch, der ist. Er wird mir langsam klar. Sein Wesenskern ist Liebe. War es schon immer. Ihre Behauptung hat mir immerhin geholfen, ihn zu erkennen.